Blick ins Jenseits

Herr Adamson

Es ist ein abenteuerlicher Roman, den Urs Widmer da geschrieben hat - ein Roman, der Grausames mit Aberwitzigem verbindet, Skurriles mit Melancholischem und Sentimentalem. Es ist die Geschichte eines Mannes, der früh einen Blick ins Jenseits wirft.

Das Ende ist in der Zukunft. Am Freitag, dem 22. Mai 2032 - es ist "Schönes Wetter. Ein perfekter Tag" -, wird ein alter Mann ein letztes Mal den Garten seiner Kindheit betreten, den Garten von Herrn Kremers Villa in Basel. Er wird sich auf eine Bank setzen und die Geschenke auspacken, die er am Tag zuvor, an seinem 94. Geburtstag, bekommen hat: ein Miniaturboot, in dessen Heck ein schwarzer Fährmann steht; ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift "Gute Reise"; eine Zeichnung, die ihn als alten Mann zeigt, der dem Horizont entgegengeht; ein Brot und eine Flasche Wein. Dann wird er ein Aufnahmegerät hervorholen, es einschalten und seiner Enkelin Anni eine Geschichte erzählen - und wissen, dass der, von dem diese Geschichte auch handelt, gleich kommen und ihn abholen wird: der Tod.

Der Tod hat ein ganz unverwechselbares Aussehen - weißer Schädel, drei Haare drauf, und eine Oberlippe "wie das Dach einer Trambahnhaltestelle" - und einen ganz bestimmten Namen: Herr Adamson. "Wir sollten allmählich" und "Wir müssen jetzt" wird dieser Herr Adamson zu dem Alten im Park sagen, und dessen Leben, dessen Geschichte wird zu Ende gehen, wird aufhören mitten im Satz...

Stellvertreter für jedermann

Was der Alte, der 94-Jährige, seiner Enkelin zu sagen hatte und was es mit diesem leibhaftigen Tod auf sich hat, das erzählt Urs Widmer in seinem neuen, liebevoll versponnenen memento-mori-Roman, "Herr Adamson".

"Schriftsteller sind alle dauernd mit dem Tod befasst, und machen das aber stellvertretend für jedermann", sagt Urs Widmer im Gespräch. "Jedermann ist dauernd mit dem Tod befasst. Die einen wehren es mehr ab, die anderen lassen es mehr zu. (...) Jetzt habe ich es ausgearbeitet, und ich glaube eben, die Heiterkeit und Leichtigkeit, die das Buch trotzdem hat, rührt daher, dass ich diesen zauberhaften Deal mit dem Tod mache."

Vom Himmel gefallen

"Herr Adamson" handelt von Indianerspielen und Indianermassakern, von Hadesfahrten und Reisen durch die Lüfte, von schwarzen Löchern und "Albtraumblitzen", fixen Ideen und seltsamen Begegnungen - und immer wieder von Tod, Krieg und Zerstörung, von Geschichte und Ausgrabung, von "Menschentrümmerhaufen". Von Episoden aus dem Leben des Ich-Erzählers, der wohl nicht ganz zufällig an den Autor erinnert, wird er doch als Mann mit Schnauzbart und wirren Haaren um den Glatzkopf geschildert, wie dieser geboren am 21. Mai 1938 in Basel. Und nicht zuletzt handelt er von dem, der des Erzählers letzter Begleiter wird und Widmers Buch den Titel gibt.

"Herr Adamson stand so jäh vor mir, als sei er vom Himmel gefallen", erinnert sich der Ich-Erzähler, der den Mann mit der markanten Oberlippe zum ersten Mal als Achtjähriger traf - in eben jenem Garten einer Villa, in dem er ihm am Ende der Geschichte ein letztes Mal begegnen wird.

"Herr Adamson ist tot, er ist ein Abgesandter aus dem Totenreich", erklärt Widmer. "Er ist folglich auch materielos. Und er sieht so aus, wie er im Augenblick seines Todes war. (...) Sein Äußeres verdankt er übrigens einer Comic-strip-Figur aus den 20er Jahren eines Schweden, der hieß Jacobson, und der hatte eine Comic-Serie, die sehr munter ist, aber mit meinem Buch eigentlich nichts zu tun hat, außer, dass Herr Adamson eben so aussieht. Und der heißt dort ebenfalls Adamson. Daher kommt sein Name, seine schwedische Herkunft und sein Aussehen."

Vorgänger und Nachfolger

"Die Lebenden können die Toten nicht sehen", erklärt Herr Adamson. Und doch ist für den Jungen im Garten der kleine, magere, uralte Mann mit grauer Strickjacke und farblosen Hosen wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Denn der, der genau in dem Moment starb, als der andere zur Welt kam, bleibt für den Nachgeborenen sichtbar. "Ich und du haben uns auf Erden abgelöst", sagt Herr Adamson zu dem Jungen. "Wie in einem Stafettenlauf ohne Stab. Ich bin dein Vorgänger. Du bist mein Nachfolger. Mich kannst du sehen. Alle andern Toten siehst du nicht."

"Zum ersten Mal begreift der Junge, was Tod ist, und das wird ihn als Eindruck, wie es uns allen geschieht, nie mehr verlassen im Leben", so Widmer. "Wir alle - natürlich gottseidank - denken nicht dauernd daran und fühlen uns auch oft unsterblich. Aber wir denken alle an den Tod, weil er unvermeidlich ist, und keinem geht es anders."

Erinnerungen und Fantasien

Urs Widmers Roman "Herr Adamson" liefert keine Lebensbeichte im eigentlichen Sinn, keinen umfassenden biografischen Rückblick, sondern mehr oder weniger locker miteinander verbundene Erinnerungen: Kindheitseindrücke und Todesvisionen, surreale Fantasien und Abenteuergeschichten.

Erzählt wird, wie der Junge, der Ich-Erzähler, der gern Indianer spielt, eines Tages einen Knochen findet, vielleicht vom Tyrannosaurus Rex, vielleicht aber auch nur von einer Kuh, den er dann immer mit sich herumträgt und der sein Talisman wird; wie er in der Nachkriegszeit Herrn Adamson kennenlernt und aus einem Haus, über dem die Abrissbirne schwebt, dessen alten Koffer rettet, mit einem vermeintlichen Schatz, der für eine gewisse Bibi bestimmt ist, Herrn Adamsons Enkelin, die aber nicht aufzutreiben ist; wie der Junge stattdessen in eine unheimliche Welt aus Schwärze, Schlick und "feuchtwarmem Atemschleim" eintaucht, das Totenreich, wo "unendlich traurige Gesichter" an ihm vorüberziehen; wie ihm Herrn Adamson verrät, dass er einst mit Heinrich Schliemann in Mykene grub, dass Schliemanns Sohn eigentlich von ihm, Herrn Adamson, gezeugt wurde und die Tochter dieses Sohnes in Wahrheit Herrn Adamsons Enkelin Bibi ist.

Erzählt wird weiter, wie sich der Junge plötzlich in Griechenland wiederfindet und von einem griechischen Polizisten mit dem Fahrrad durch die Lüfte von Mykene zurück in die Schweiz transportiert wird; wie er später die praktisch unlernbare Sprache der Navajo-Indianer lernt und seine Leidenschaft fürs Graben entdeckt; wie er in einer Bierhalle der Archäologin Daphne Miller begegnet, die sich später als die gesuchte Bibi entpuppt, wie er mit ihr nach Window Rock in Arizona fährt und dort - wir befinden uns bereits in der Zukunft, im Jahr 2011 - ein blutiges Massaker recherchiert, das sich 1938 an Navajo-Indianern ereignete...

Das Ende ist die Zukunft

Es ist ein wüster, wirrer, abenteuerlicher Plot, den Widmer da zusammengebastelt hat - zu einem Roman, der Grausames mit Aberwitzigem verbindet, Skurriles mit Melancholischem und Sentimentalem - und nicht so sehr zum "Bildungsroman" eines Sonderlings sich fügt, sondern eine Geschichte bleibt, die sprunghaft wirkt und episodenverliebt, metaphysisch und schelmenhaft ausgedacht zugleich: die Geschichte eines Mannes, der früh einen Blick ins Jenseits tat.

"In dem Buch ist natürlich die Vorstellung, dass die Welt bevölkert ist von unsichtbaren Toten", meint Widmer. "Wir spüren sie allenfalls, weil Tote, wenn man durch sie hindurchgeht oder sie durch uns, etwas kühl sind, man fröstelt ein bisschen."

In seinem neuen Roman, der mit dem Ende beginnt, das die Zukunft ist, die das Ende wird, in diesem "Herrn Adamson", sagt Urs Widmer, habe er seine private Totenmythologie verarbeitet - wie diese genau aussieht, wird freilich nicht weiter expliziert. An Totenreiche, Unsterblichkeit oder Seelenwanderung mag er jedenfalls nicht glauben, Urs Widmer, der nachdenklich-verschmitzte Erzählerphilosoph. Wohl aber an die Hoffnung, dass er, wie sein "Held", gesund und wohlgemut den 21. Mai 2032 erlebt. Das meint er mit dem "Deal" mit dem Tod: den 94. Geburtstag noch erleben - und dann bereit sein, zu gehen. Mit oder ohne einen Herrn Adamson.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 18. Dezember 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 20. September 2009, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Urs Widmer, "Herr Adamson", Diogenes Verlag

Link
Diogenes - Herr Adamson