Mit anderen Augen

Sommer des Lebens

Der genaue Blick auf die eigene Person durch die Augen anderer: Wie viel ließe sich daraus lernen und begreifen, aber wie ängstlich weichen wir dieser Perspektive in der Regel aus. J. M. Coetzee, Nobelpreisträger 2003, hat sie literarisch gewagt.

Fesselnd, brillant, verstörend, tiefernst und zugleich lässig selbstironisch bis komisch, wie der Südafrikaner in seinem autobigrafischen Roman "Sommer des Lebens" vier Frauen und einen Mann über den Schriftsteller und Nobelpreisträger John Coetzee zu Wort kommen lässt.

Eine Julia Frankl hat den jungen Mann als ihren zeitweiligen Geliebten in einer Vorstadt von Kapstadt Anfang der 1970er Jahre erlebt. Sexuell habe sie nach "sieben Nächten der Prüfung" konstatiert, dass er nicht "das gleiche Format gehabt hat wie ich damals". Ein mit 33 Jahren völlig unfertiger Mensch, der ihr aber durch die Liebesbeziehung geholfen habe, aus einer kaputten Ehe herauszukommen. "Hat er mich oder die Idee von mir geliebt?" fragt sie und bedauert Coetzee, weil er bis auf eine Ausnahme nie zu Handlungen direkt "aus dem Herzen" fähig war. Andererseits: "Er war der einzige mir bekannte Mann, der es zuließ, dass ich ihn bei einer ehrlichen Diskussion besiegte."

Forschungsobjekt Coetzee

Vielleicht seien ihre Erinnerungen an den Schriftsteller nicht alle buchstäblich wahr, bestimmt aber "dem Geist nach", sagt Julia. Der sie dazu befragt, ist keineswegs Coetzee selbst. In diesem Buch ist der Autor in das - schon gestorbene - Forschungsobjekt eines englischen Literaturwissenschaftlers verwandelt, der den berühmten Schriftsteller nie selbst erlebt hat.

Neben der Ex-Geliebten interviewt er Coetzees Lieblings-Cousine Margot sowie zwei frühere Uni-Kollegen. Und die brasilianische Ex-Tänzerin Adriana, deren Tochter Coetzee unterrichtet und deren Schönheit ihn zu aussichtslosen Nachstellungen treibt. "Was mich anging, beraubte mich seine Anwesenheit im Raum aller Freude", sagt sie und meint ohne Lektüre eines einzigen Coetzee-Buches, dass der kein großer Schriftsteller gewesen sein könne: "Man muss auch ein großer Mann sein. Er war ein unbedeutender kleiner Mann."

Ein einsamer Loser

Was Adriana über das Leben und Sterben ihres Ehemannes, eines Journalisten und am Ende verarmten Nachtwächters zu erzählen hat, ist für sie viel wichtiger und liest sich auch interessanter als die Kommentare zu Coetzees Avancen. Die große Erzählkunst des inzwischen in Australien lebenden Südafrikaners zeigt dieses Buch auch durch die lebendige und eigenständige Entfaltung aller Personen - einschließlich des Literaturwissenschaftlers mit seinen holprigen und mitunter unfreiwillig komischen Methoden als Biograf.

Das Bild eines vorzugsweise einsamen, entschlussschwachen "Losers", eines Verlierertypen und Spätentwicklers Coetzee im schrecklichen Südafrika der Apartheid-Rassenherrschaft schält sich dabei heraus. Einige bekannte biografische Grunddaten stimmen mit denen im Buch nicht überein. In "Sommerzeit des Lebens" lässt sich der Autor allein mit dem hilfsbedürftigen Vater leben, während er in Wirklichkeit schon verheiratet war und Kinder hatte.

Dritter Teil der "fiktionalisierten Erfahrungen"

Was hier erfunden wurde und was nicht, ist für Gewinn aus diesem Buch gleichgültig. Coetzee hat sich immer vehement dem Interesse des Publikums an "seiner Person" verweigert. Seine Kindheitserinnerungen "Der Junge" (1997) und das Buch über die Jugend "Die jungen Jahre" (2002) hat es selbst "fiktionalisierte Erfahrungen" genannt.

In diesem dritten Teil seiner autobiografischen Trilogie variiert der Nobelpreisträger mehrfach einen legendären Satz von Franz Kafka: "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." Das zählt, und mit diesem Anspruch darf man sich literarisch auch das Schlüsselloch-Interesse des Publikums an allen Berühmten zunutze machen.

Service

J. M. Coetzee, "Sommer des Lebens", aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke, S. Fischer Verlag