Die schwierige Aufarbeitung der "Kulturrevolution" in China

Das Morden begann im Mädchengymnasium

Während der "Kulturrevolution"wurden in China hunderttausende Intellektuelle und Kulturschaffende gefoltert und oft auch in den Tod getrieben. 1966 wurde eine Lehrerin von ihren Schülerinnen zu Tode geprügelt. Filmemacher Hu Jie hat den Fall dokumentiert.

Wir schreiben das Jahr 1966. Chinas kommunistischer Staatsgründer und oberster Führer, Mao Zedong, hat im Sommer die sogenannte Kulturrevolution ausgerufen: Die Gesellschaft soll radikal umgekrempelt werden. Massenaufmärsche, die Mobilisierung vor allem der Jugend, und ein grenzenloser Personenkult um die Person Maos, begleiten diese gigantische politische Kampagne.

Aber es ist auch ein Machtkampf, in dem Mao versucht, politische Widersacher auszuschalten. Vor allem jene, die den sogenannten Großen Sprung vorwärts, Ende der 50er Jahre, kritisiert haben, weil diese Mobilisierung der Volksmassen nicht, wie erhofft, rasanten wirtschaftlichen Aufschwung gebracht hat, sondern ein ökonomisches Desaster und Hungersnöte mit Millionen Toten.

"Säuberungen" gegen Kritiker

Mao geht gegen die Kritiker in die Offensive: Vor allem die Gruppe um Staatspräsident Liu Shaoqi ist Maos radikalen Revolutionären ein Dorn im Auge. "Machthaber auf dem kapitalistischen Weg", diffamiert man sie. Doch auch abertausende einfache Funktionäre, Intellektuelle und Kulturschaffende geraten nun in die Mühlen der "Säuberungen" - am Schluss werden es Millionen sein.

Eines der ersten Opfer dieser sogenannten Kulturrevolution ist Bian Zhongyun. Sie ist Lehrerin und Vizedirektorin des renommierten Mädchengymnasiums, das der Pädagogischen Hochschule in Peking angeschlossen ist. Am 5. August 1966 wird sie von ihren eigenen, gerade 14 bis 16 Jahre alten Schülerinnen zu Tode geprügelt.

Religiös anmutender Führerkult

An Stelle des regulären Unterrichts an Schulen und Universitäten sind sogenannte Kampf-Kritik-Umgestaltungs-Sitzungen und das Studium der Mao-Zedong-Ideen getreten. Das Kleine Rote Buch mit Zitaten des Großen Vorsitzenden, im Ausland oft Mao-Bibel genannt, wird in gewaltigen Auflagen gedruckt. Auch Hunderte Millionen von Mao-Abzeichen, die sich jeder an die Brust heften soll, werden hergestellt. Der Führerkult nimmt religiöse Dimensionen an.

Am 1.Juni 1966 erscheint im KP-Organ Volkszeitung ein Leitartikel, der zum Kampf gegen Rinderdämonen und Schlangengeister aufruft. Gemeint sind damit, in Anlehnung an einen Begriff aus dem Buddhismus, alle politisch unliebsamen Elemente. Gegen sie lässt Mao die Roten Garden mobilisieren - Millionen von Jugendlichen, von denen er sich revolutionären Elan und Unterstützung bei den politischen Säuberungen erhofft.

Die Revolution frisst ihre Kinder

So wie viele der Opfer der Roten Garden entstammte auch die Lehrerin Bian Zhongyun nicht etwa den alten konservativen Eliten, sondern der Generation, die sich frühzeitig Maos Revolution angeschlossen hatte. Schon 1941, als die Kommunisten noch im Untergrund kämpften, war sie in die Partei eingetreten.

Auch Bian’s Ehemann, der Universitätsprofessor Wang Jingyao, hat sich viele Jahre für die kommunistische Sache engagiert. Nun wird er zu einem der Hauptzeugen in einem Film, der das Sterben seiner Frau dokumentiert.

Professor Wang ist zu diesem Zeitpunkt 85 Jahre alt, doch er erinnert sich noch an jedes Detail: "Am 4. August 1966 wurden einige Leitungsmitglieder der Schule im Büro zusammengetrieben und schwer misshandelt. Sie waren schon öfter geschlagen worden, aber dieses Mal war es viel schlimmer. Die Mädchen nahmen Kolben von Übungsgewehren der Miliz. Es waren alles Mädchen, keine Burschen. Es war ja ein Mädchengymnasium. Aber unter diesen Bedingungen zeigten sie ihre andere Seite."

Das Morden macht Schule

Tags darauf brachte man die fünf Mitglieder der bisherigen Direktion, unter ihnen Bian Zhongyun, zur neuerlichen öffentlichen Demütigung auf den Schulhof. Ihre Gesichter hatte man mit schwarzer Tinte verschmiert, nur Augen und Zähne konnte man noch erkennen. Man hatte ihnen spitze "Schandhüte" aufgesetzt, und die Mädchen schlugen mit nägelgespickten Knüppeln auf die Lehrerinnen ein. Bian brach schließlich zusammen. Man ließ sie stundenlang liegen, bis sie starb. Dabei war das nächste Krankenhaus auf der anderen Straßenseite.

Die brutale Tötung der Lehrerin löste aber nicht etwa öffentliches Entsetzen aus, sondern wirkte eher als richtungsweisendes Beispiel für die von Mao entfesselte Massenbewegung, berichtet ein anderer Zeitzeuge: "Vom Mädchengymnasium in Peking breitete sich das Morden im ganzen Land aus. Millionen von Menschen kamen ums Leben. Der Mord an Bian Zhongyun ermutigte die jungen Leute, zu schlagen und zu töten. Das Morden begann hier an dieser Schule."

Allein in der Hauptstadt Peking werden von Mitte August bis Ende September 1966 mehr als 1.700 Lehrer, Professoren und Funktionäre der Schulverwaltung als "reaktionäre akademische Autoritäten" denunziert, und von Rotgardisten gefoltert, zu Tode geprügelt oder in den Selbstmord getrieben.

Bis heute ein Tabuthema

Keine einzige der Täterinnen von damals ist bis heute zur Rechenschaft gezogen worden. Zwar gibt es seit Anfang der 80er Jahre in China wieder ein leidlich funktionierendes Justizwesen. Dennoch scheiterte Bian’s Ehemann Wang Jingyao mit all seinen Versuchen, eine gerichtliche Verurteilung der Hauptbeteiligten zu erreichen.

Und es gehört offenbar auch heute noch viel Mut dazu, sich in China als Zeuge für die Gewaltexzesse während des Roten Terrors zu Wort zu melden, oder sich für Interviews mit Historikern und Journalisten zur Verfügung zu stellen.

Ein Film will das Schweigen brechen

Als der unabhängige chinesische Filmemacher Hu Jie 2005, fast vierzig Jahre nach Beginn der Kulturrevolution, einen Film über das Schicksal von Bian Zhongyun drehen wollte, verweigerten bis auf drei Personen alle möglichen Zeitzeugen die Mitarbeit. Insbesondere die ehemaligen Schülerinnen des Mädchengymnasiums.

Der Film kam dennoch zustande. Bian‘s Ehemann stellte Erinnerungsstücke, Aufzeichnungen und Fotos zur Verfügung. Am Tag nach dem Mord hatte er sich eine Kamera gekauft, die Leiche seiner Frau fotografiert, ebenso die Wandzeitungen und Drohbriefe, die sie zuvor von den Rotgardistinnen erhalten hatte.

Chinesische Regierung verhindert Aufarbeitung

Seit einigen Jahren gibt es in China, und auch unter Chinesen im Ausland, Versuche, das Schweigen über besonders verbrecherische Gewalttaten zu durchbrechen. Es sind kleine Initiativen der Zivilgesellschaft, die zunächst einmal schlicht rekonstruieren wollen, was damals geschehen ist.

Doch eine tiefergehende Debatte erlaubt das offizielle China nicht: Publikationen werden immer wieder verboten, Filmfestivals zensiert, Internetforen blockiert, auch die einschlägigen Webseiten aus dem Ausland sind in China nicht zugänglich.

Die heutige kommunistische Führung hat Angst, eine kritische Aufarbeitung der Kulturrevolution könnte auch ihre Autorität in Frage stellen: "Ab Beginn der 80er Jahre hat die Partei gesagt, lasst uns keine alten Rechnungen aufmachen, weil sie gesehen haben, dass eine unheimliche Zerrissenheit durch diese Gesellschaft geht, die als ausgesprochen gefährlich betrachtet wurde", sagt die Wiener Sinologie-Professorin Susanne Weigelin-Schwiedrzik.

Sie hat zusammen mit ihren Mann den Film von Hu Jie in einer deutschen Fassung zugänglich gemacht. Wolfgang Schwiedrzik war in den 60er Jahren in einer maoistischen Gruppierung engagiert. Heute kritisiert er, dass auch ein Teil der europäischen Linken den Terror in China verharmlost habe: "Die Kulturrevolution hatte auch bei uns so etwas wie einen Heiligenschein bekommen, einen Segen von intellektuellen Autoritäten." Informationen über die Gräueltaten seien damals durchaus zugänglich gewesen, man wollte sie aber oft nicht wahrhaben.

Hör-Tipp
Journal Panorama, Dienstag, 22. Dezember 2009, 18:25 Uhr

DVD-Tipp
Hu Jie; Wolfgang und Susanne Schwiedrzik, "... nicht der Rede wert? Der Tod der Lehrerin Bian Zhongyun am Beginn der Kulturrevolution", Edition Mnemosyne

Link
Mnemosyne - "... nicht der Rede wert?", DVD + Hörbuch