Der flexible Mensch als Opfer der "New Economy"

Soziologie, die an der Zeit ist

Jahrzehntelang galt die Soziologie als sterile Wissenschaft. Die Hinwendung vieler Soziologen/innen zu konkreten gesellschaftlichen Problemen hängt mit einem Krisenbewusstsein zusammen, das sich mit dem Begriff "Unsichere Zeiten" charakterisieren lässt.

Soziale Fragen rücken wieder mehr in das Zentrum soziologischer Reflexionen. Die ökonomische Krise macht deutlich, wie sehr der ökonomische Faktor das gesellschaftliche Leben dominiert.

In der zeitgenössischen Soziologie wird die wachsende soziale Ungleichheit zu einem zentralen Thema, das der Soziologe Ulrich Beck auf das Scheitern der "Ersten Moderne" zurückführt, in der das Individuum durch den Wohlfahrtsstaat abgesichert war.

Abgelöst wurde die "erste Moderne" durch den Globalisierungsprozess der "zweiten Moderne" - der "New Economy". Hier wurde der Arbeitnehmer plötzlich mit der Forderung konfrontiert, möglichst "flexibel" (Richard Sennett) zu sein und sein Leben nach den sich ständig verändernden Vorgaben der Arbeitgeber auszurichten.

Gleichzeitig stieg der psychische Druck, unbedingt erfolgreich zu sein. Wem dies nicht gelang, dem drohte die soziale Ausgrenzung, "die Exklusion" (Heinz Bude), die zu schweren Depressionen führen kann.

"The Masters of the World"

Die internationale Finanzkrise hat konkrete Ursachen. Die Vorgangsweise einer winzigen Gruppe von Managern, die einschneidende Folgen für die gesamte Gesellschaft mit sich brachte, bewog den Soziologen Richard Sennett zu seinem jüngsten Forschungsprojekt.

Darin zeichnet Sennett, ein Stimmungsbild von New Yorker Banken der Wall Street aus der Sicht von mittleren Angestellten des Finanzwesens. Sie arbeiteten dort als Computertechniker oder Buchhalter, bevor sie durch die Krise im Herbst 2008 arbeitslos wurden. Sie beklagten sich über einen allmählichen Realitätsverlust und selbstherrliche Aktionen der Manager, die das Finanzdesaster herbeiführten.

Für eine sozialökologische Revolution

Eine zeitgemäße Soziologie hat auch mit der weltweiten ökologischen Krise zu tun. Die Klima- und Energiekrise, die Ressourcen- und die Ernährungskrise und die Zerstörung der Ökosysteme können weder getrennt voneinander noch von ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen betrachtet werden.

Die Auffassung, dass der Mensch "Herr und Meister der Natur" (René Descartes) sei, hat Jahrhunderte lang die Beziehung Mensch-Natur charakterisiert. Die Kolonialisierung der Natur führte dazu, dass ökologische Selbstregulierungen außer Kraft gesetzt und durch menschliche Planung ersetzt wurden.

Angesichts der tiefgreifenden Zerstörungsprozesse der Natur befürworten Soziologen wie Ulrich Beck und Bruno Latour eine ökologische Oktoberrevolution, die zu einem radikalen Wandel in der individuellen und kollektiven Einstellung zur Natur führen soll.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 8. Februar bis Donnerstag, 11. Februar 2010, 9:30 Uhr

Buch-Tipps
Ulrich Beck, "Macht und Gegenwelt im globalen Zeitalter", suhrkamp taschenbuch 4099

Ulrich Beck, "Weltrisikogesellschaft", Suhrkamp, Frankfurt am Main

Heinz Bude, "Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft", Hanser, München

Denis Hollier, "Das College de Sociologie", Suhrkamp, Frankfurt am Main

Reiner Keller, "Michel Maffesoli", uvk, Konstanz

Bruno Latour, "Das Parlament der Dinge", aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, suhrkamp taschenbuch wissenschaft

Bruno Latour, "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft", aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, suhrkamp taschenbuch wissenschaft

Stephan Moebius, "Die Zauberlehrlinge. Sozialgeschichte des College de Sociologie", Universitätsverlag Konstanz

Sighard Neckel, "Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft", Campus, Frankfurt am Main

Sighard Neckel, Claudia Honegger, Chantal Magnin, "Strukturierte Verantwortungslosigkeit", edition suhrkamp

Sighard Neckel, Claudia Honegger, Chantal Magnin, "Berichte aus der Bankenwelt, edition suhrkamp 2607, Frankfurt am Main, angekündigt für Juni 2010

Hans-Georg Soeffner, "Auslegungen des Alltags. Der Alltag der Auslegung", UTB

Richard Sennett, "Der flexible Mensch", Berliner Taschenbuch Verlag

Richard Sennett, "Die Kultur des neuen Kapitalismus", Berliner Taschenbuch Verlag