Mehr Gelassenheit und Lebensintensität
Die Kraft der Hingabe
Der etwas antiquierte Begriff der Hingabe kann ein Schlüssel zu mehr Lebensqualität sein, wenn man ihn so versteht, dass man den Ereignissen des Lebens nicht mit Widerstand entgegentritt, sondern mehr Urvertrauen an den Tag legt.
8. April 2017, 21:58
Vor dem Zeitalter der Aufklärung war der Begriff der "Hingabe" als Suche nach transzendenten Erfahrungen ein wichtiger Wert. Mit aufkommen des Rationalismus ging diese Qualität zusehends verloren.
Mit dem Aufkommen der "Vernunft" bildete sich der "Ich-Begriff" als feste, vom Rest der Welt abgegrenzte Identität immer stärker heraus. Der Philosoph Descartes etwa definierte mit seinem berühmten Satz "Cogito ergo sum" den Menschen über seine Denkleistung. Die menschliche Existenz wurde also auf Logik, Analyse, gedankliche Abfolgen reduziert.
Erst mit dem Zeitalter der Romantik wurden diese starren Ich-Grenzen wieder aufgeweicht, Emotion und Übersinnliches hielten wieder Einzug, und Sigmund Freund schließlich spaltete das "Ich" gar in drei Teile auf, um schließlich festzustellen: "Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus".
Abgabe von Macht
Diese immer durchlässiger werdenden Grenzen der Ich-Identität spiegeln sich auch im Begriff der "Hingabe" wieder, der heute Eingang in Techniken der Persönlichkeitsentwicklung findet. Hingabe bedeutet abgeben von Macht, anerkennen, dass man selbst womöglich gar nicht so sehr der "Macher" seines Lebens ist, als der man sich üblicherweise gerne sieht.
Auch die moderne Hirnforschung zweifelt mit dem deutschen Neurologen Gerhard Roth zusehends an der Existenz eines freien Willens. Werden wir also gedacht und gefühlt? Haben wir die Kontrolle über unsere eigenen Entscheidungen? Im Buddhismus etwa heißt es: "Sobald du erkennst, dass du nicht der Tuende bist, erscheint Buddha". Die Philosophie der Hingabe steht im krassen Gegensatz zur westlichen Ideologie des Kontrollierbaren, des Mess- und Zählbaren.
Hingabe als Schmerztherapie
Hingabe kann jedoch ein Schlüssel zu mehr Lebensqualität sein - sofern diese nicht als Selbstaufopferung missverstanden wird. Hingabe als Aufgeben von Widerstand ist etwa eine eigene therapeutische Technik bei der Schmerzbekämpfung geworden, indem ich den Schmerz nicht "wegmachen" will, sondern ihn zulasse und die damit einhergehenden Gefühle und Gedanken beobachte.
Diese Technik nennt sich ACT, zu deutsch "akzeptanzbasierte Schmerztherapie" und wurde auf Basis des Achtsamkeitstrainings MBSR "mindfullness based stress reduction" des amerikanischen Arztes und Meditationslehrers John Kabbat-Zinn entwickelt. Auch im Rahmen von kreativen Techniken spielt zulassen, Kontrolle aufgeben, warten, bis sich das Kunstwerk "manifestiert", eine große Rolle.
Eine akzeptierende Grundhaltung führt zu mehr Entspannung
Auch im Alltag kann eine hingebungsvolle, wertschätzende Grundhaltung zu mehr Zufriedenheit führen. Wer das, was gerade passiert, bejaht, auch wenn es sich um unangenehme Situationen handelt, lässt Stress und Kontrolle los.
Denn Unangenehmes ist häufig unvermeidbar, eine akzeptierende Grundhaltung für dieses Unabänderliche führt zu mehr Entspannung und häufig kann dann auch in schwierigen Alltagssituationen das Positive entdeckt werden. In diesem Sinn kann Hingabe an das, "was ist", zu mehr Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit für jeden einzelnen Moment führen, und dadurch zu mehr Lebensintensität.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 15. Februar bis Donnerstag, 18. Februar 2010, 9:05 Uhr