Das Zusammenleben von Mary und Charles Lamb

Muttermord und Geschwisterliebe

Die Geschichte von Mary Lamb und ihrem Bruder Charles liest sich wie ein Krimi: Mary hat ihre Mutter umgebracht, trotzdem kann sie, unter der Obhut ihres Bruder, in Freiheit leben und zu einer der bekanntesten Schriftsteller der Romantik werden.

Wer heute eine Einführung in die Werke William Shakespeares sucht, findet Titel wie "Shakespeare für Jedermann" oder "Shakespeare für Eilige" in Verlagsverzeichnissen. Sie sind nur zwei von vielen Ausgaben, die sich in der langen Geschichte dieses Werks angesammelt haben. Die "Tales from Shakespeare", die die Geschwister Charles und Mary Lamb im Jahr 1809 erstmals veröffentlichten, sind bis in die Gegenwart gefragt. Ursprünglich waren sie mit dem Ziel verfasst, ein junges Publikum in die Stücke des großen Dichters einzuführen und ins Theater zu locken. Heute dürften sie eher zum Füllen von Bildungslücken Erwachsener dienen.

Lehre statt höherer Bildung

Mindestens ebenso spannend wie die Handlung mancher dieser klassischen Dramen ist die Lebensgeschichte der beiden Autoren der "Tales". Denn auch in ihrer Biografie sind Muttermord und Wahnsinn dramatische Höhepunkte. Mary wird am 3. Dezember 1764 als zweites Kind der Familie Lamb im Rechtsbezirk Inner Temple im Zentrum Londons geboren, Charles folgt elf Jahre später als jüngstes der Geschwister nach.

Marys erste Lebensphase ist typisch für ihre Zeit: Die Brüder dürfen eine höhere Schule besuchen, das Mädchen muss eine Lehre als Mantelnäherin absolvieren. Als unverheiratete Tochter lebt sie im ärmlichen Elternhaus, versorgt die Familie und arbeitet oft bis tief in die Nacht hinein.

Klaglos erfüllt sie ihre Pflicht, bis sie - 32-jährig - eines Tages plötzlich ausrastet. Als Charles aus dem Büro heimkehrt, findet er seine Mutter erstochen vor, der Vater ist verletzt und Mary, die Täterin, erwartet ihn verzweifelt in der verwüsteten, blutverschmierten Wohnung. Er bringt die Schwester umgehend in eine Anstalt, nach Hoxton House am Stadtrand von London.

In der Obhut des Bruders

Zwar hat man Ende des 18. Jahrhundert für psychische Leiden keine Therapien, aber man erkennt immerhin, dass Kranke für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden können: So wird Mary nach einigen Monaten in der Anstalt nicht eingesperrt, sondern in die Freiheit, in die Obhut von Charles entlassen. Die beiden beginnen ein neues gemeinsames Leben.

Schon seit der Schulzeit ist Charles mit Samuel Taylor Coleridge befreundet, der inzwischen zum bekanntesten Dichter der englischen Romantik geworden ist. Dem Kreis gehören viele Poeten, aber auch Theaterleute und Vertreter der unterschiedlichsten Berufe an. Zahllose Briefe werden ausgetauscht, man verbringt gemeinsame Ferien im Lake District und unternimmt weite Wanderungen.

Die nacherzählten Werke Shakespeares

In London führen Mary und Charles ein gastliches Haus, mit einfachen Mitteln bewirten sie Freunde, Mary ist Mittelpunkt ihres literarischen Salons. Zu diesem Kreis gehört auch der Verleger William Godwin, der Vater Mary Shelleys, von allen geschätzt und wegen seiner revolutionären Schriften bewundert. Er erteilt Mary und Charles den Auftrag, für junge Leser die Werke Shakespeares nachzuerzählen: Die "Tales from Shakespeare" erscheinen 1809, enthalten 20 Stücke auf 15 Seiten zusammengefasst.

Das Buch wird sofort ein Bestseller, also schließen die Geschwister sofort mit einem zweiten Projekt an den Erfolg an: "Mrs. Leicester School" bringt ebenfalls Erzählungen für junge Leser, wendet sich aber vor allem an Mädchen.

Von der Krankheit überschattet

Die großen Erfolge können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Marys und damit auch Charles' Leben für immer von der Krankheit überschattet bleibt. In gesunden Zeiten ist sie eine liebenswürdige, ungemein kluge Frau, als Ratgeberin geschätzt und Gesprächspartnerin gesucht. Die Geschwister kennen die Zeichen schon, die auf den Ausbruch eines neuerlichen Anfalls hindeuten: Dann packt Mary ihre Zwangsjacke ein und Charles begleitet sie nach Hoxton House, wo sie die schreckliche Zeit mit Hilfe einer persönlichen Pflegerin zu überstehen trachtet.

In der Mitte ihres Lebens und auf dem Höhepunkt ihres Erfolges stellt Mary mit 45 Jahren ihre literarische Produktion ein, obwohl sie auf dem Buchmarkt große Chancen hätte. Sie schreibt nur noch für den privaten Gebrauch - zahllose Briefe und Gedichte. Charles dagegen macht sich in späteren Jahren als Essayist einen Namen: "Essays from Elia" werden in namhaften Zeitungen veröffentlicht.

"The devil kissed her"

Zwei Biografien überliefern das Leben von Mary Lamb: Die eine, 1909 veröffentlicht, ist längst vergriffen. Die zweite, bedeutendere, hat die Autorin Kathy Watson 2004 in England herausgebracht: "The Devil Kissed Her", benannt nach der Zeile eines Gedichts, das Charles verfasst hat: "I had a sister, the devil kissed her and raised a blister".

Shakespeare-Biograf Peter Ackroyd hat die beiden historischen Figuren Mary und Charles überdies in einem Roman beschrieben: "Wie es uns gefällt". Alle Biografen waren offenbar fasziniert von der ungewöhnlichen Beziehung zweier Geschwister, die durch einen tragischen Vorfall - die Tötung der Mutter - ein Leben lang verbunden blieben und in großer Zuneigung zusammenlebten, die keine verfemten Einzelgänger wurden, sondern geschätzter Mittelpunkt eines bedeutenden Freundeskreises.

Es ist aber nur weniges über Marys Leben nach Charles' frühem Tod mit 59 Jahren bekannt. Sie, die Ältere, hat ihn um mehr als ein Jahrzehnt überlebt. Man weiß nur, dass sie mit immer häufigeren und längeren Ausbrüchen ihrer Krankheit in Pflege war, von den wenigen verbliebenen Freunden geschätzt und betreut.

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Wikipedia - Charles Lamb
Wikipedia - Mary Ann Lamb