Kindern zuhören

Das Matratzenhaus

Paulus Hochgatterer entwirft in seinem Roman "Das Matratzenhaus" ein vielstimmiges Panoptikum kleiner menschlicher Schwächen und Alltagsmühen, hinter denen sich unbemerkt das Ungeheuerliche abspielt. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Kinder.

Volkschulkinder kommen grün und blau geschlagen nach Hause, und wenn man sie fragt was vorgefallen ist, erzählen sie nicht viel, außer dass sie einer schwarzen Glocke begegnet seien. Kommissar Ludwig Kovacs und Psychiater Raphael Horn beginnen ihre Untersuchungen unaufgeregt, für sie sind geschlagene Kinder nichts Ungewöhnliches. Nach und nach zeigt sich die ganze schreckliche Dimension der Vorfälle.

Wenn man den Plot von Paulus Hochgatterers neuem Roman "Das Matratzenhaus" auf diese Weise zusammenfasst, könnte man den Eindruck gewinnen, es handle sich um einen Kriminalroman. Doch wer die Bücher des österreichischen Kinderpsychiaters kennt, weiß, dass sie inhaltlich wie formal weit über dieses Genre hinausreichen.

Multiperspektivisch erzählt

Wenn man Paulus Hochgatterer im Café gegenübersitzt, hat man nicht den Eindruck, einen Mann vor sich zu haben, der von seiner Doppelexistenz als Schriftsteller und Arzt zerrissen wird. Im Gegenteil, beide Berufe werden füreinander fruchtbar gemacht. Wie schon im Vorgängerroman "Die Süße des Lebens", für den Hochgatterer vergangenes Jahr mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde, ist die Handlung in der fiktiven westösterreichischen Kleinstadt Furth am See angesiedelt und wird nicht linear erzählt, sondern aus den Perspektiven mehrerer Figuren entwickelt.

Das multiperspektivische Erzählen habe ihn immer schon interessiert, sagt Hochgatterer, das sei durchaus etwas, das mit seinem Zweitberuf viel zu tun habe: "Die Kinderpsychiatrie ist ein Fach, das davon lebt, dass man Erzählungen verschiedener Menschen hört und dann zu einem Bild macht."

Psychischer Druck

Der selbstkritische Psychiater Horn ist die am plastischsten gezeichnete Figur, ein abgeklärter Menschenfreund mit Humor, der sich neben seinen Patienten vor allem seiner Frau, einer eigensinnigen Cellistin, seinen halbwüchsigen Söhnen und seinem Garten widmet.

Ein zweiter Sympathieträger des Buches ist der lebensskeptische Kriminalist Kovacs, der von seiner Geliebten auf Distanz gehalten und von seiner 16-jährigen Punk-Tochter genervt, am liebsten fischen geht oder die Sterne betrachtet.

Stella Jurmann heißt die dritte handlungstragende Figur. Die engagierte Volkschullehrerin leidet unter einer dunklen Vergangenheit. Wenn der psychische Druck zu groß wird, fügt sie sich Schnittverletzungen zu. Trost findet sie in der Affäre mit einem dauerlaufenden schizophrenen Benediktinerpater.

Ein anderer Blickwinkel

Paulus Hochgatterer lässt den Leser tief in die Psychen seiner Figuren blicken. Da gibt es jede Menge Störungen, von Raphael Horns harmlosem Spleen, laut zu denken, über Gewaltfantasien bis zur Selbstverletzung und zur Schizophrenie. Eine seinem Zweitberuf geschuldete Gewichtung des Autors?

"Ich glaube, dass meine Figuren nicht kränker oder psychisch abnormer sind, als die Figuren anderer Autoren", antwortet Hochgatterer. "Nur bin ich leider Gottes Psychiater, daher sieht man das unter einem anderen Blickwinkel."

Über Horn und Kovacs wird auktorial und im Imperfekt erzählt. Über Jurmann, die - als Lehrerin - den misshandelten Kindern am nächsten steht, im Präsens.

Fannys Stimme

Und dann gibt es noch eine Stimme, die sich als Ich-Erzählerin direkt an den Leser wendet. Sie gehört Fanny, einem Mädchen, das Opfer eines Kinderpornorings wurde, und das auf mitunter verstörende Weise aus seiner Normalität berichtet. Ihm kommt der Leser sehr nahe, bis an die Grenze der Erträglichkeit. Der Autor ergeht sich dabei nicht in Andeutungen, vermeidet aber auch allzu große Deutlichkeit.

"Die Herausforderung ist, das was ausgesprochen werden könnte, an der richtigen Stelle wegzulassen", so Hochgatterer. "Damit überlässt man dem Leser das Aussprechen, das innere Aussprechen."

Mit Fannys Stimme spricht ein heranwachsendes Kind über ein Erleben, das sich vielfach mit normalen kindlichen Erfahrungen deckt. Immer wieder aber tauchen in seinen Schilderungen Vorgänge auf, die auf Schreckliches schließen lassen - auf unspektakuläre Weise, als Teil einer verdrehten Normalität. Der Leser beginnt zu begreifen und wird Komplize von Fannys Befreiungs- und Rachefantasien, in denen sich Versatzstücke aus japanischen Mangas und Tarantino-Filmen finden. Die Erwachsenen sind mit ihren Wahrnehmungen und ihrem Innenleben beschäftigt. Die Signale der Kinder werden fehlinterpretiert, falsch verstanden oder gar nicht erst richtig zur Kenntnis genommen.

"Letztlich geht's auch ums genaue Hinhören in diesem Buch", meint Hochgatterer. "Wenn man sich Kinder zum Anliegen macht, muss man Kindern zuhören, und zwar genau zuhören."

Kleine und große Abgründe

Paulus Hochgatterer entwirft in seinem Roman "Das Matratzenhaus" ein vielstimmiges Panoptikum kleiner menschlicher Schwächen und Dramen, Alltagsmühen und mehr oder weniger liebevoller Beziehungsgeflechte, hinter dem sich unbemerkt das Ungeheuerliche abspielt. Inmitten vieler kleiner Abgründe klafft unsichtbar der große.

Service

Paulus Hochgatterer, "Das Matratzenhaus", Deuticke Verlag

Deuticke - Paulus Hochgatterer