Aufzählungen von Eco & Co.

Listen in der Literatur

Kulturjournalisten erstellen Listen der 100 besten Bücher, Musikjournalisten veröffentlichen Hitparaden. Eine Wiener Stadtzeitung veröffentlicht am Jahresende die Liste der hundert Besten des Bösen. Auch die Literatur ist voll mit Aufzählungen.

Aufzählen, Verzeichnisse erstellen und überhaupt jede Art von Sammeln zieht sich von der Antike bis zu den Rankings zeitgenössischer Massenmedien durch die Geschichte der Wissensverarbeitung. Diesem kulturgeschichtlichen Phänomen widmet sich Umberto Eco in seinem neuen Buch "Die unendliche Liste".

Die erste einer langen Liste von Listen, die Eco analysiert, ist der berühmte Schiffskatalog aus der Ilias: Kein Vergleich scheint Homer adäquat, einen Eindruck der ungeheuren Größe des griechischen Heeres zu geben, das darangeht, Troja zu belagern. Da er die Gesamtzahl der Krieger nicht kennt, greift er zum Trick, einfach die Heerführer mitsamt ihren Schiffen aufzuzählen:

Führer war den Böoten Peneleos, Leitos Führer
Arkesilaos zugleich, und Klonios, samt Prothoenor.
Diese zogen daher in fünfzig Schiffen, und jedes
Trug der böotischen Jugend erlesene hundertundzwanzig.


Und so geht es weiter über 350 Verse. Der Schiffskatalog aus der Ilias ist nach Eco eine "poetische Liste". Neben poetischen gibt es noch praktische Listen wie Einkaufszettel oder Gästelisten.

Eine unendliche Geschichte

Ecos hauptsächliches Interesse gilt jedoch der poetischen Liste, er begreift sie als offene Form der literarischen Beschreibung, "wenn man die Grenzen dessen, was man darstellen will, nicht kennt, wenn man nicht weiß, wie viele Dinge es sind, von denen man spricht."

Genau genommen stellt die poetische Liste laut Eco keine literarische Form dar, denn die literarische Form sei prinzipiell geschlossen. Listen hingegen - so die zentrale These des Buches - seien potenziell unendlich. Poetische Listen wohlgemerkt, denn praktische Listen sind sehr wohl endlich, hätte es doch wenig Sinn, "dem Katalog eines Museums ein Werk hinzuzufügen, das dort nicht auch aufbewahrt wird."

Variationen nach Epochen

Da Listen nicht hierarchisch ordnen, sondern eben nur auflisten, könnte man meinen, so Eco, sie wären als mythologisch-literarische Beschreibungsweise typisch für primitive Kulturen, die eine noch ungenaue Vorstellung vom Universum haben.

Ganz so einfach ist es natürlich nicht - noch jede kulturgeschichtliche Epoche hat ihre Variation der Liste hervorgebracht und das implizite "und so weiter" auf ihre Weise genutzt. Und auch wenn sich die Funktion der Liste im Lauf der Zeit ändert, verweist sie doch immer auf das menschliche Streben nach Wissen und das Verlangen, sich des Bekannten zu versichern, indem man es verzeichnet.

In der Schenke

Allerdings fand die Liste in Gestalt der rhetorischen Figur der enumeratio, was nichts anderes als Aufzählung bedeutet, auch in der profanen Literatur Anwendung, wie das Schenken-Lied der "Carmina Burana" zeigt:

Weiber trinken, Laffen trinken,
Söldner trinken, Pfaffen trinken,
diese trinken, jene trinken
Knecht und seine Schöne trinken,
Träge trinken, Schnelle trinken,
Gerade trinken, Krumme trinken,
Schlaue trinken, Dumme trinken.
Kranke samt den Armen trinken,
Fremde zum Erbarmen trinken,
Junge trinken, Alte trinken...

Schlachtengemälde, Engelschöre und Stillleben

Neben Auszügen aus den untersuchten Listen-Texten enthält Ecos Buch zahlreiche Abbildungen, denn nach Ecos Verständnis ist die Liste kein rein verbales Phänomen. Ob Schlachtengemälde, Engelschor oder Stillleben, wie die verbalen Listen erfüllen auch die visuellen die Funktion, das Unsagbare darzustellen.

In Correggios "Himmelfahrt Mariens" in der Domkuppel von Parma zum Beispiel: Engel und Heilige gruppieren sich um eine runde Himmelsöffnung, von manchen sieht man nur ein Bein oder einen Arm, von den meisten nur das Gesicht. Und obwohl ein akribischer Betrachter die Gestalten wahrscheinlich abzählen könnte, ist doch klar, dass die, die zu sehen sind, nicht alle sind, die es gibt, und dass Correggio mit dem Dargestellten auf die tatsächliche Unendlichkeit der Himmelsschar verweisen will.

Der barocke Rausch der Listen setzt sich in unzähligen Varianten in der Literatur der Moderne und Postmoderne fort - hier zieht Eco ein Beispiel aus einem eigenen Buch heran - der Sturzbach Dutzender und Aberdutzender Gesteinsarten in seinem Roman "Baudolino". Auf der anderen Seite gibt es chaotische Listen, deren einziger Sinn darin zu bestehen scheint, das vollkommen Unzusammenhängende zu versammeln. Allerdings widersetzen sich die Listen oftmals der Kategorisierung.

Das metaphysisch Unendliche

Ihren Höhepunkt erreicht die Poetik der Liste bei Jorge Luis Borges. In seiner Erzählung "Die analytische Sprache John Wilkins'" kommt eine fiktive chinesische Enzyklopädie vor, die Tiere nach folgenden Kriterien unterteilt:

a) dem Kaiser gehörige, b) einbalsamierte, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in diese Einteilung aufgenommene, i) die sich wie toll gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.

Diese Liste ist mehr als bloß "chaotisch", sie ist paradox: Die Kategorien überlappen sich, mittendrin will eine ein mysteriöses "und so weiter" umfassen und eine Kategorie der Liste alles beinhalten, was ebendiese Liste beinhaltet. Borges' paradoxe Liste spreche jeder vorgegebenen logischen Ordnung Hohn, schreibt Eco und, so könnte man hinzufügen, verweist damit doch noch auf das metaphysische Unendliche und die unendliche Liste in ihre Grenzen.

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Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 13. Februar 2010, 17:05 Uhr

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Buch-Tipp
Umberto Eco, "Die unendliche Liste", Hanser Verlag

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