Vom Verhältnis zwischen Künstler und Kunst

Lied ohne Worte

Sofja Tolstaja, Leo Tolstois Frau, hat sich in ihren Werken immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie weit die Person eines Künstlers an seinem Werk gemessen werden kann und darf. So auch in ihrem Roman "Lied ohne Worte".

Als 1895 ihr jüngster Sohn, der damals 7 Jahre alt war, unerwartet starb, stürzte dies Sofja Tolstaja in eine schwere psychische Krise. "Wieder zum Leben erweckt" - so schreibt sie in ihrem Tagebuch - wurde sie durch die intensive Beschäftigung mit Musik, zu der sie der Pianist und Komponist Sergej Tanejew angeregt hatte.

Tanejew, der zu dieser Zeit eine der zentralen Persönlichkeiten des russischen Musiklebens war und am Moskauer Konservatorium unter anderen Rachmaninow und Skrjabin unterrichtet hatte, stand seit längerem in freundschaftlichem Kontakt zur Familie Tolstoi. Um die verzweifelte Sofja zu trösten und aufzumuntern, spielte er für sie auf dem Klavier, er regte sie zu eigenem Klavierspiel an und er lud sie zu seinen Konzerten ein.

Stark autobiografisch

Sofja genoss diese Aufmerksamkeit, die sie von ihrem Ehemann nicht bekam. Denn sie und Leo Tolstoi hatten sich im Laufe der Zeit mehr und mehr voneinander entfremdet, vor allem seit sich Tolstoi einem mystisch verbrämten Asketismus zugewandt hatte. Sofjas schwärmerische Verehrung für Tanejew löste bei Tolstoi allerdings heftige Eifersucht aus. Immer öfter kam es zu Streitigkeiten, in dem für ihn typischen moralischen Pathos verdammte Tolstoi alle Musik, da in ihr, wie er meinte "absolut kein Gefühl der Sittlichkeit" sei, und er drohte, seine Frau zu verlassen.

Die von dieser Reaktion zutiefst betroffene Sofja fand im Schreiben eine Art psychisches Ventil - so wie auch schon ein paar Jahre zuvor, als sie die Kränkung, die ihr Tolstoi mit seiner frauen- und ehefeindlichen "Kreutzersonate" zugefügt hatte, in der Erzählung "Eine Frage der Schuld" verarbeitet hatte. Und genau so wie jenes Werk ist auch die Erzählung "Lied ohne Worte" stark autobiografisch geprägt.

Hilfe durch Musik

Auch Sascha, die Protagonistin, gerät - wie Tolstaja selbst - durch einen Todesfall (bei ihr ist es die Mutter, die stirbt) in eine schwere Depression, auch ihr hilft die Musik, auch hier stehen einander zwei Männer gegenüber: der wenig sensible Ehemann und der bewunderte Pianist, der in vielem an Tanejew erinnert. Jenes Musikstück, das Sascha, wie es heißt, "mit dem Leben versöhnt", ist eines der "Lieder ohne Worte", also eine jener Klavier-Kompositionen von Felix Mendelssohn-Bartholdy, die Sofja Tolstaja selbst immer wieder als jene Musik bezeichnet, die sie "bis ins Innerste aufwühle".

Während sich aber Sofja entschieden dagegen verwehrte, in Tanejew verliebt zu sein ("Bei uns wird doch alles ins Banale gezogen", vermerkt sie dazu im Tagebuch), verlangt es ihre Protagonistin Sascha immer intensiver nach einer Liebesbeziehung zu dem Musiker. Dieser allerdings scheint von ihren Gefühlen ihm gegenüber nichts zu bemerken, was schließlich zum völligen Zusammenbruch Saschas führt. "Das Lied ihrer Liebe war ohne Worte verhallt, und das hatte ihr Leben zerstört".

Große Sensibilität

Bemerkenswert an Sofja Tolstajas "Lied ohne Worte" sind die Sensibilität und Genauigkeit, mit der es die Autorin versteht, psychische Vorgänge sprachlich umzusetzen. Die Wirkung der Musik, die allmählich entstehende Verliebtheit, das Sich-nicht-Eingestehen-Wollen der Gefühle, die Qualen der nicht erwiderten Leidenschaft - all dies ist überaus einfühlsam und packend beschrieben.

Zentrales Thema des Werkes ist das Verhältnis zwischen Künstler und Kunst. Denn Saschas Tragik besteht darin, dass sie die Wirkung der Musik nicht von der Person des Musikers zu trennen vermag. Zunächst weiß sie gar nicht, wer die Musik, die eine so vehemente Wirkung auf sie hat, spielt - sie hört die "Lieder ohne Worte" nur zufällig, durch ein offenes Fenster. Sie verliebt sich in die Musik - und überträgt diese Liebe dann auf den Musiker, mit dem sie im Übrigen kaum etwas verbindet.

Zwar erkennt Sascha diese Problematik - immer wieder spricht sie davon, dass sie mit ihrer Leidenschaft "die Absolutheit und Reinheit der Kunst" verraten habe - sie kann diesen Konflikt aber nicht lösen, an dem sie letztlich in tragischer Weise zugrunde geht.

Kunst steht für sich

Sofja Tolstaja hat sich in ihren Werken immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie weit die Person eines Künstlers an seinem Werk gemessen werden kann und darf, beziehungsweise wieweit es legitim ist, aus einem Kunstwerk Rückschlüsse auf die menschlichen Qualitäten des Künstlers zu ziehen. Ihre Antwort - die wohl sehr viel mit der überaus schwierigen Persönlichkeit ihres Mannes zu tun hatte - lautete stets: das Kunstwerk steht für sich, sein Wert ist absolut und ist nicht in direkte Verbindung zum Künstler zu setzen.

Service

Sofja Tolstaja, "Lied ohne Worte", aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller, Manesse Verlag

Manesse - Sofja Tolstaja