Liebster Freund Stainhauser!
Johann Nestroy, Sämtliche Briefe
29. September 2010, 00:35
Dein Brief, so heute angekommen, hat uns wieder sehr erfreut. Den Grund, warum ich Dir so lange nicht geschrieben, hast Du insofern richtig getroffen, als ich seit 8 Tagen Sieben Briefe zu beantworten hatte. Auch ist es noch in anderer Beziehung schwer; was kann ein von Geschäften zurückgezogener Provinzler einem Residenzbewohner, der sich überdieß an der Spitze eines so interessanten Geschäftes befindet, Belanghabendes schreiben? Alles was geschieht, weißt Du um 24 Stunden früher als ich; ich kann Dir daher höchstens den Eindruck schildern, den die Vorgänge in der großen Welt auf uns Kleinbürger machen.
So machte z. B. das Urtheil im Prozeß "Richter" hier einen komischen Eindruck, und ich kann den Leuten nicht Unrecht geben. Die Ungeheuerlichkeit des Beamten-Zopfs präsentierte sich da wirklich in Hydroxigengasmikroscopischer Größe. Die Kleinlichkeit der Verschärfung des Strafmonates durch Drey Fasttage ist wahrhaft riesig. Dieses gegen Trun(k)bolde bey Rauf-Excessen, bey Taxfuhrverweigernden Fiakerknechten recht passende Verschärfungsmittel, bey einem Manne von Richters Stellung angewendet, heißt wirklich dem schönen Satz "Vor dem Gesetze sind Alle gleich" die komischeste Seite abgewinnen. Drey Fasttage für den Director der Credit-Anstalt! warum nicht auch eine Stunde auf Erbsen knien?, oder einigemahle als Strafpensum das Zeitwort conjugieren "IchhabedenEinattenbestochen, duhastdenEinattenbestochen, erhatdenEinattenbestochen, wirhabendenEinattenbestochen ectr."? Unwillkührlich macht man da auch die Reflexion, existiert denn Jemand, der noch Niemand zum Mißbrauch der Amtsgewalt bestochen hat?
Ich habe bei "Stierbök" immer ein gutes Trinkgeld gegeben, und siehe da, meine Portion Gefrornes war größer als die Portionen Gefrornes, welche andere mindertrinkgeldspendende Gäste erhielten. Kann mich das nicht auch auf die Bank der Angeklagten bringen? Bey meinem Abscheu vor den Fasttagen ist dieß eine unheimliche Idee. - Was sagst Du zu den Ungarn? es sind recht gutgesinnte liebe Herrn. Vor Acht Tagen erhielt ich einen Antrag auf einen Gastrollen-Cyclus nach Pesth, allein ich habe ihn abgelehnt. Ich hatte mir eben einen schönen neuen Cylinder gekauft, warum soll ich mir den gleich antreiben lassen in seiner Glanzperiode? Ich liebe die Orte nicht, wo man die Kaiserlichen Adler herunterreißt, und habe einen degout vor dem Heldenthum, welches sich durch diese Adler-Maltraitierung manifestiert.
Die Italiäner sind doch unsere geschwornen Feinde, und wie anständig benehmen sie sich im Vergleich mit den Ungarn. Es ist wahrscheinlich der Dank, den diese edle Nation dafür ausspricht, daß sie durch das Kaiserliche Diplom so sehr vor den civilisierten Völckern der Monarchie bevorzugt wurde. Es gehört dieß auch zu den Vorzügen von Gratz, daß hier nicht, wie in Wien, das Auge fortwährend durch den Anblick dieser, im allerunbegründetsten Stolze sich blähenden, honvédisch aufnationalisierten Laffen beleidigt wird.
Nun von der Politik zu Geschäften. Bis jetzt entgehst Du noch in keinem Briefe ähnlicher Belästigung. Es handelt sich um die Zeitungs-Praenumerationen. Die ausländischen Redactionen haben die etwas unsolide Geschäftsmanier, daß sie einem durch lange Zeit die Blätter ohne Praenumerationsschein ins Haus schicken. Man bemerkt sie nicht, liest sie nicht, und nach einem Jahr, und noch länger, verlangen sie das Geld für Etwas, was man nie gewünscht, nie bestellt. Die Zwey beyfolgenden Briefe setzen Dich genau in Kenntniß; befrage Hrn. Chimani, und sind diese Redactionen wirklich noch nicht bezahlt, so habe die Gefälligkeit selbe sogleich zu bezahlen, mich aber auch für künftige Zeiten von ihren Zusendung(en) durch schriftliche Kündigung zu schützen.
Von ausländischen Zeitungen praenumeriere ich auf nichts mehr, als vor der Hand noch auf die Zwey Berliner-Blätter "Theaterdiener" und "Theater-Moniteur". - Auf Beyde habe die Güte von 1stn Januar (1)861 an, auf ein halbes Jahr zu praenumerieren, ermittle bey dieser Gelegenheit auch, ob ich bey diesen Beyden nicht auch unbewußt im Rückstand bin.
Von Wiener-Blättern nehme ich nur das "Fremdenblatt" - (H v Heine ist so galant, keinen Praenumerations-Preis von mir anzunehmen, wofür ich mich sobald ich nach Wien komme, persönlich bedanken werde) - dann die "Morgenpost" die "Presse" und den "Figaro". Habe die Güte die Drey letztgenannten auf ein halbes Jahr zu bezahlen. (Das Halbjahr der Presse beginnt aber, wie ich aus der Couvert-Schleife entnehme, erst mit 31stn Januar.) Die "Wiener-Zeitung" wird mir täglich zugeschickt, ich lese sie nicht, weiß auch nicht, ob sie bezahlt ist oder nicht. Von 1stn Januar (1)861 will ich sie aber nicht mehr. Was interessiert an einem politischen Blatt? die Politik. Vermöge ihrer officiellen Stellung darf aber die Wiener-Zeitung weit weniger Politik bringen, als jedes andere Blatt. Wozu also? und im Übrigen ist das Papier zu sehr geleimt. Wozu also?
Mit dem größten Bedauern, daß Dich Stellung und Geschäfte an Wien fesseln, und ich Dich daher wohl schwerlich hier als lieben Gast in den Weihnachtsfeyertagen begrüßen werde,
verbleibe ich
Dein alter Freund
J. Nestroy
Buch-Tipp
Johann Nestroy, Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, Herausgegeben von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und W. Edgar Yates, Band 41, Sämtliche Briefe, Herausgegeben von Walter Obermaier, Deuticke 2005, ISBN: 3216307425
Anmerkungen
Richter
Im Bestreben, nach dem verlorenen Krieg von 1859 die Unfähigkeit der Heeresführung nicht eingestehen zu müssen, wurde versucht, die Schuld teilweise auf mangelhafte Armeelieferungen zu schieben und die Lieferanten des strafbaren Betruges zu beschuldigen. Franz Richter (1810-1861), dem Hauptdirektor der Creditanstalt, wurde vorgeworfen, dem stellvertretenden Armeekommandanten Eynatten 25 Nordbahnaktien verschafft zu haben. Auch wurde er wegen des von ihm angeordneten Verteilens von Trinkgeldern und Zigarren an Soldaten (zur Beschleunigung von Ladearbeiten) der Bestechung bezichtigt. Während des Prozesses stellte sich mehr und mehr heraus, dass Richters Bemühungen durchaus im wohlverstandenen Interesse des Armeeoberkommandos, dem er als Ratgeber zur Seite stand, gelegen waren. So hatte er beispielsweise höherwertiges Garn als sonst üblich aus seiner eigenen Spinnerei zum gleichen Preis wie das gewöhnliche Garn anderer Firmen geliefert. Die Stimmung im Gerichtssaal neigte sich daher von allem Anfang an dem Angeklagten zu, und nach dem Plädoyer seines Verteidigers kam es zu Beifallsrufen. Trotzdem erfolgte die Verurteilung zu einem Monat Haft, doch wurde Richter sofort entlassen. Er starb drei Wochen nach der Schlußverhandlung (vgl. Benedikt, S. 50 ff. und Pitaval XXXV, S. 102).
Hydroxigengasmikroscopischer Größe
Das "Hydro-Oxygen-Gas-Mikroskop" gehörte zu den populären naturwissenschaftlichen Unterhaltungen, "durch welches die dem freien Auge unsichtbaren Wunder der Schöpfung Millionen Mal vergrößert, auf einer weißen Wand sich präsentiren". Es wurde auch auf der Praterstraße, nur wenige Schritte vom Carltheater entfernt, dem Publikum vorgeführt (Theaterzeitung 28. Juni 1856, Nr. 148, S. 600. Vgl. auch Stücke 22, S. 262 und 347 sowie Obermaier 2004, S. 223 f.).
IchhabedenEinattenbestochen
August Freiherr von Eynatten (1798-1860), vom 28. Mai bis zum 18. Juli 1859 stellvertretender Armeekommandant, war in den Verdacht des Missbrauchs der Amtsgewalt geraten und hatte auch ein Geständnis abgelegt, dass er in einer schwierigen finanziellen Lage Geldgeschenke angenommen habe. Obwohl sich der Vorwurf des Missbrauchs der Amtsgewalt als unbegründet herausstellte, nahm sich Eynatten in der Nacht vom 7. zum 8. März 1860 im Gefängnis das Leben. Ein weiteres Opfer dieser Affäre wurde Österreichs prominentester Wirtschaftsfachmann, der Finanzminister Baron Karl Ludwig Bruck (1798-1860). Der Kaiser hatte ihn persönlich in der Sache Eynatten seines Vertrauens versichert, dann aber unvermittelt aus dem Kabinett entlassen. Bruck gab sich aus verletzter Ehre in der Nacht vom 22. zum 23. April 1860 selbst den Tod.
Stierbök
Bekanntes Kaffeehaus in der Leopoldstadt nahe der Schlagbrücke (heute: Wien 2., gegenüber Praterstraße 3 und 5).
Ungarn
Das Verhältnis zwischen Ungarn und Österreich war innerhalb der Monarchie sehr gespannt, vor allem nachdem in Ungarn mit russischer Hilfe die Revolution 1848/49 niedergeschlagen und die Komitatsverwaltung abgeschafft worden war. Nestroy teilte als strenger Zentralist die - vielfach nur emotionell begründete - Abneigung vieler Österreicher gegen die Ungarn (vgl. auch Brief Nr. 210).
Gastrollen-Cyclus
Nestroy hat nach einem Kurzgastspiel am 3./4. April 1856 nicht mehr in Pest gastiert (Neuber 1987, S. 197). Der Ausspruch mit dem Zylinder wurde noch nach Nestroys Tod kolportiert: "Die Einladung zu einem Gastspiele nach dem von der Agitation der Beschlußpartei durchzitterten Pest beantwortete er mit dem Telegramm: 'Danke. Komme nicht. Habe soeben einen neuen Cylinder gekauft'" (Wiener Theater Chronik Nr. 23, 1862, S. 91).
Kaiserliche Diplom
Ungarn waren im Oktoberdiplom von 1860 bedeutende Konzessionen gemacht worden (Ausgleich, S. 25 f.).
honvédisch
Honvéd, ung., "Vaterlandsverteidiger", war der Name einer 1848 in Ungarn aufgestellten Freiwilligentruppe, ab 1867 dann die Bezeichnung der ungarischen Landwehr.
Zeitungs-Praenumerationen
Zeitungsabonnements, die im Allgemeinen jeweils für ein Halbjahr vorgenommen wurden. Die Berliner Zeitungen waren Der Theater-Diener. Organ für Ernst und Scherz, Kunst und Theater-Interessen, der seit 1859 wöchentlich erschien, und Theater-Moniteur. Die Morgenpost, ein eher unpolitisches, aber liberales Blatt mit ausgeprägtem Lokalteil erschien ab 1850, die Presse ab 1848 und das humoristische Wochenblatt Figaro ab 1857. Die Wiener Zeitung, die älteste Tageszeitung Wiens und das offizielle Regierungsblatt, erschien seit 1703.