Lieber Freund Lucas!
Johann Nestroy, Sämtliche Briefe
29. September 2010, 00:35
Ich sitze fest zwischen 4 Wänden. Gestohlen kann ich ummöglich werden. Jetzt kann mir Niemand mehr abstreiten daß ich ein gesetzter Mann bin. Naiv und sinnreich war es von Dir, daß Du mir, dem Gefangenen, Spindlers Kettenglieder schicktest. Mich hat einiges sehr unterhalten. Ich bin Dir sehr verbunden. Karten gespielt wird hir nicht, es ist nicht Ton in den Kerckern. Deine Bücher und meine Flaschen sind also meine einzige Beschäftigung, ich schlürfe mit Muße den beyderseitigen Innhalt in mich.
Zwey Tage muß ich sitzen wegen Extemporieren in "Mädchen in Uniform", dann, daß wier nicht aus der Übung kommen, Drey Tage wegen Hund Wiest. Indessen der Schuft wird mir, und zwar bald, auf die Länge einer Schneider Elle in den Wurf kommen, und dann dürfte seine Bocksseele unter meinen Fäusten gewaltig zu zappeln anfangen. - Mein Arrest ist vollkommen den Grundsätzen der Kercker-Etiquette gemäß.
Die Schlößer an meiner Thüre haben die Größe derer, die man gewöhnlich vor den Kerckerthüren der Hochverräther antrifft. Die Bewachung vor einem möglichen echappieren ist so sorgfältig, als ob ich um Zwey Millionen Obligationen verfälscht, 7 Jungfern, á 13 Jahr alt, genothzüchtigt, einige Kinder und diverse Erwachsene umgebracht hätte. Vor meinem Gitterfenster ist ein hölzerner Kobel, damit die Lichte nur von oben eindringen kann, aus Vorsicht, daß ich mit andern Missethätern, Genossen meiner Frevelthaten, nicht vielleicht durch Zeichensprache correspondieren kann.
Ich schreibe dir diese Miserabilitäten nur, damit du dir ein Bild machen kannst, wie sehr man in Wien Kunst und Künstler achtet, und mit welcher ausgezeichneten Humanität mann sie bey geringen Vergehungen behandelt. - So sitze ich in der pickantesten Einsamkeit; nur selten bringt das sanfte Himmelblau eines bedienenden Polizey-Manns eine Abwechslung in das einförmige Weiß meines Thurmgemachs. Wie einem in müssigen Stunden mancherley treffende Gedancken kommen, so ist mir eine ganz originelle Art von Ohrfeigen eingefallen; ich glaube daß sie in Wiests Galgenphysiognomie sich nicht unvortheilhaft ausnehmen dürften. Wier wollen sehen, was zu thuen ist.
Dein Freund
J. Nestroy
Sänger, Schauspieler, Komicker, Dichter,
und Arrestant, und der Himmel weiß,
was noch Alles.
Buch-Tipp
Johann Nestroy, Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe, Herausgegeben von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und W. Edgar Yates, Band 41, Sämtliche Briefe, Herausgegeben von Walter Obermaier, Deuticke 2005, ISBN: 3216307425
Anmerkungen
Lucas
Der Hofschauspieler Karl Wilhelm Lucas (1804-1857) war mit Nestroy schon seit seiner Preßburger Zeit bekannt.
Ummöglich
Diese Schreibweise ergibt sich daraus, dass Nestroy über das "m" einen Geminationsstrich setzte; doch verwendet er diese Form auch öfters, wenn das Wort ausgeschrieben wurde.
Spindlers Kettenglieder
Karl Spindler (1796-1855), der Verfasser der unter dem Titel Kettenglieder erschienenen Erzählungen (3 Bde., Stuttgart 1829), war ein zu dieser Zeit viel gelesener und wegen seiner lebendigen Schilderung historischer Zustände beliebter Romanschriftsteller und Dramatiker.
Extemporieren
Das Sprechen von im bewilligten Zensurbuch nicht enthaltenen, oft aus dem Stegreif formulierten Textpassagen auf der Bühne. Es war bei Strafe untersagt und wurde von der Zensurbehörde äußerst streng überwacht.
Mädchen in Uniform
Das Stück mit Nestroy in der Rolle des Sansquartier wurde im fraglichen Zeitraum nur am 29. Dezember, gemeinsam mit Nestroys Der Tritschtratsch (Stücke 7/II; UA 20. November 1833 Theater an der Wien), im Theater an der Wien gegeben. Der Inhalt des Extempores ist nicht bekannt.
Wiest
Nestroy war wegen Beleidigung dieses Journalisten zu einer Arreststrafe verurteilt worden (siehe Brief Nr. 6).
Schneider Elle: Die im Schneidergewerbe gängige Maßeinheit "Elle" entsprach zu dieser Zeit in Wien 77,92 cm.
Echappieren
Frz., fliehen.
Obligationen
Wertpapiere.
Kobel
"Kobel", Variante von "Kober", österr. für 'Käfig', 'Stall', 'Verschlag'.
Himmelblau eines (...) Polizey-Manns
Nestroy hatte seine Arreststrafe im Polizeihaus abzusitzen, vermutlich im k. k. Polizeihaus (Pezzl, S. 178 ff.) in der Sterngasse 453 (heute: Wien 1., Marc-Aurel-Str. 7); die Polizeiwachebeamten trugen blaue Uniformen.
Zwing-Uri
Anspielung auf eine Szene in Friedrich Schillers (1759-1805) Drama Wilhelm Tell (I, 3): der Fronvogt gibt auf die Frage, wie eine neu erbaute Festung heißen soll, zur Antwort: "Zwing Uri soll sie heißen, / Denn unter dieses Joch wird man euch beugen."