Dimensionen, Montag bis Donnerstag, 19:05 Uhr

Entfernte Verbindungen, unerwartete Nachbarschaften

Die Welt rückt zusammen

Menschen, Objekte und Informationen bewegen sich immer stärker und immer schneller durch die Welt. Die aktuelle Dynamik von Nähe und Distanz trennt Menschen voneinander, die vorher zusammengelebt hatten, und schafft gleichzeitig neue Gemeinschaften. Während sich nationale, kulturelle und wirtschaftspolitische Schranken auflösen, entstehen neue Grenzen.

Was passiert, wenn Menschen Grenzen überqueren? Wer oder was ist fremd? Was bedeutet kulturelle und nationale Identität? Die Konferenz der europäischen Sozialanthropologie in Wien suchte nach Antworten auf diese Fragen.

Von 8. bis 12. September fand die Konferenz der europäischen Sozialanthropologie in Wien statt. Im Mittelpunkt der Vorträge und Workshops: neue Grenzen und neue Konflikte, aber auch die Entstehung neuer Allianzen und Verbindungen.

Die Welt rückt zusammen. Immer mehr Menschen bewegen sich weg von den Orten, Ländern und Kontinenten, an denen sie geboren wurden. Für den Sozialanthropologen Achille Mbembe von der Witwatersrand Universität in Johannesburg, Südafrika, ist der Umgang mit "den Fremden" die radikalste Herausforderung für das demokratische Ideal in Europa.

Problematische Projekte

Was passiert, wenn durch Migration neue Nachbarschaften entstehen? Die Wissenschaftlerin Verity Elston von der Universität Chicago untersuchte ein Projekt in Süditalien, in dem kurdische Flüchtlinge in einer kleinen Stadt in Kalabrien eine neue Heimat finden sollten.

Mit Unterstützung der Europäischen Union entstand ein Tourismusprojekt im Ort. Doch was auf kultureller Identität aufbaute, hatte negative Folgen. Die Kurden kamen mit dem Flüchtlingstourismus nicht zurecht, und die italienischen Bewohner fühlten sich von den Touristen nicht verstanden, die in einer Region, wo mehr als jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist, nach einem Ferienidyll suchten.

Neue Allianzen

Was bedeutet es im Jahr 2004, Österreicher oder Norweger zu sein? Für Thomas Eriksen von der Universität Oslo sind Nationalstaat und Staatsbürgerschaft ein Auslaufmodell für Mitgliedschaft in Europa. Er plädiert für neue Allianzen.

Denn wer sich als Teil vieler unterschiedlicher Gruppen empfindet, etwa als internationaler Wissenschafter oder als Musikliebhaber, vermeidet Konflikte mit den verschiedenen Gemeinschaften, denen er oder sie sich zugehörig fühlt.

Witze als Forschungsfelder

Das Phänomen der Migration führt in der Kultur- und Sozialanthropologie zu neuen Forschungsfeldern. Marco Juntunen von der Universität Helsinki etwa analysiert Witze über Migration, die in Marokko und unter den marokkanischen Auswanderern in Spanien zirkulieren.

Fremd-Sein ist ambivalent: In den Witzen zeigt sich, dass sich die jungen Marokkaner als echte Repräsentanten ihres Landes sehen - doch gleichzeitig fühlen sie sich vom eigenen Land im Stich gelassen, das ihnen kaum Arbeitsplätze bietet.

Neue Grenzen

Während in Europa das Konzept der Nationalstaaten zunehmend in den Hintergrund rückt, entstehen in anderen Teilen der Welt neue Grenzen - wie etwa in Zentralasien, wo sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR neue Nationalstaaten gebildet haben.

Die Wissenschafterin Tsypylma Darieva vom Max Planck Institut für Sozialanthropologie in Halle erforscht die Entstehung des jungen Staates Kasachstan und seine Beziehung zum Nachbarland Usbekistan. Wo früher nur auf dem Papier eine Grenze bestand, hindern heute Checkpoints und Stacheldrähte die Menschen am Überqueren.

Bis heute versuchen viele der Bewohner und Bewohnerinnen, die Grenzziehung zu umgehen. Doch seit der Einführung unterschiedlicher Zeitzonen und der Sprach- und Schriftreform vertieft sich die Trennung zwischen den Ländern.

"Können wir diesen Planeten teilen?"

Für den Wissenschafter Achille Mbembe lautet die fundamentale Frage: "Können wir zusammen leben, können wir diesen Planeten teilen? Und wenn ja, was sind die Werte, auf denen dieses Zusammenleben basiert? In anderen Worten, es geht um die Möglichkeit, politische Gemeinschaften aufzubauen, die über verwandtschaftliche Beziehungen hinausgehen."