Literarische Fingerübungen

29. September 2010, 00:35

Er entschied, doch nicht mit dem Zug hinzufahren. Das würde ihn zu sehr einschränken. Er wäre dann von Charlotte und ihren wie immer gearteten Vorhaben abhängig. Das Auto ermöglichte ihm, sich freier zu fühlen. Auch wenn er davon wenig Gebrauch machen würde. Er ließ sich dazu überreden, unter Umständen zwei Tage zu bleiben. Das Angebot von Charlotte, in ihrem Haus zu übernachten, lehnte er dankend ab. Er kannte sie ja überhaupt nicht, wenngleich ihr Telefonat einen vertrauten Ton hatte. Sie schlug ihm auch gleich vor, "du" zu sagen.

Dass Fritz spurlos verschwunden ist, beschäftigte ihn nun schon seit Tagen und versetzte ihn in eine unangenehme Unruhe. Er versuchte immer wieder, sich an ihre gemeinsam e Zeit und ihre Erlebnisse zu erinnern. Fritz war doch so ausgeglichen, so in sich ruhend, so überlegt bei seinen Handlungen.
Charlotte sprach von etwas Wichtigem, das sie mit ihm besprechen wollte. Er ließ die Schulzeit, die gemeinsamen Ausflüge, die Partys, die Kaffeehaus-Treffen, vor allem die vielen Gespräche, darunter auch eine Menge Streitgespräche, Szene für Szene in seinem Kopf ablaufen, versuchte, sich die Stimmungen in Erinnerung zu rufen und blieb bewusst bei jedem Detail, das auf ein Geheimnis hinweisen könnte, hängen.

Fritz, ein Aussteiger? Fritz, der schon früh seine Karriere klar vor sich hatte. Praktischer Arzt, am liebsten Landarzt, Augenarzt, HNO oder Internist, darüber haben sie öfter gesprochen.
Alle anderen medizinischen Bereiche hatten für ihn etwas Beunruhigendes. Fritz brachte dann sein Studium problemlos hinter sich, keine Frauengeschichten, keine schwierigen Phasen. Und dann fühlte er diese Berufung zum Landarzt.
Oder hatte der Arztberuf doch etwas Belastendes? Litt er vielleicht übermäßig unter seinen Fehldiagnosen? Es fiel ihm ein, dass sich vor kurzem ein Arzt der Allgemeinmedizin in mittleren Jahren aus der näheren Gegend umgebracht hatte.
Oder war Fritz in irgendwelchen finanziellen Schwierigkeiten?