Wien-Krimi im Psychoanalytikermillieu

Die Notizen des Doktor Freud

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erschienenen Buchs "Die Notizen des Doktor Freud".

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5. Was Freud mit Sublimierung gemeint haben könnte

Schweigend machten sie sich auf den Weg, denn er fand immer noch nichts, worüber sie hätten sprechen können, nicht, als sie auf den Platz hinaustraten, und auch nicht, als sie von der Weihburggasse aus in die Seilerstätte einbogen. Aber das war bedeutungslos, denn ihr Körper war neben dem seinen, und er passte sich wie von selbst ihrem Rhythmus an. Er ertappte sich bei der Vorstellung, mit ihr in einem der Hauseingänge zu verschwinden und sich statt musikalischen Genüssen einem Ausbruch ungehemmter Leidenschaft hinzugeben. War das nun doch eine Wirkung dieser Droge, oder war es seine Natur?

Am Schwarzenbergplatz mit dem Denkmal des berühmten Fürsten und dahinter dem des unbekannten Rotarmisten - siegreich waren sie beide gewesen - überquerten sie die Ringstraße und betraten kurz darauf das Foyer des Musikvereins, der Kathedrale des Wiener Musiklebens. Obgleich sie kein Wort gewechselt hatten, war ihm, als hätten sie sich in einem intensiven Dialog befunden. Doch gerade diese Nähe machte ihn befangen, weckte in ihm den Wunsch, jede Grenze zu ihr zu überwinden, aber im selben Moment auch die Furcht, sie könnte sein Begehren nicht erwidern. Wortlosigkeit bewahrte ihm zumindest die Illusion, dass das nicht geschehen würde.

Sie hatten ihre Plätze erreicht, in der ersten Reihe des Cercle, ganz links außen. Gleich würde die Musik beginnen und seine Sprachlosigkeit kaschieren. Die Mitglieder des Orchesters kamen auf die Bühne, ein erster freundlicher Applaus brandete auf und steigerte sich, als nach dem Stimmen der Instrumente der Dirigent an sein Pult trat. Der Maestro verbeugte sich kurz, wandte sich um und wartete, bis völlige Ruhe herrschte.

Schwermütig getragen setzte die Melodie des ersten Satzes ein, und für Federer öffnete sich eine Gefühlswelt, wie er sie bei anderen Menschen unablässig suchte, aber nie fand. Nur in der Kunst konnte er seinen Sehnsüchten freien Lauf lassen. Die Musik befreite ihn - so sehr, dass es nicht lange dauerte, bis seine Hand ganz selbstverständlich den Weg auf Veras Knie neben dem seinen fand. Brüsk wurde sie zurückgewiesen.

Er war wie vor den Kopf gestoßen. All die Bilder, die sich in den vergangenen Stunden in sein Denken eingeschlichen hatten, zerstoben so unvermittelt, wie sie sich ihm aufgedrängt hatten. Die Musik entfaltete unbeirrt ihre Tragik, aber es fiel Federer auf einmal schwer, sich zu konzentrieren. Seine Enttäuschung verstellte ihm den Zugang zu der emotionalen Tiefe der Musik. Alles lenkte ihn ab, ein Konzertbesucher in der gegenüberliegenden dritten Balkonloge, der ihn durch sein Opernglas zu beobachten schien und sich dabei am Bart zupfte, und ganz besonders der stark übergewichtige Violinist, der direkt vor ihm auf dem Podium saß und vor Anstrengung einen Kranz feiner Schweißperlen auf seiner Stirn trug. Doch dann geschah etwas, das zuerst Federer überraschend in seinen Bann zog und, nach einem leichtsinnigen Blick während der Spielpause zwischen erstem und zweitem Satz, auch den fleißigen Musiker.

Es war Veras Hand, die Federer auf seinem Oberschenkel spürte, an dessen Innenseite sie sich langsam, aber bestimmt entlangtastete und ihn in Erregung versetzte, verdeckt von ihrem weiten Seidenschal, den sie wie beiläufig auf seinen Schoß hatte gleiten lassen. Kaum jemand sonst schien etwas zu bemerken, außer eben dem Geiger, der entsprechend heftiger transpirierte. Nicht nur das, die unfreiwillige Ablenkung ging auf Kosten seiner musikalischen Konzentration, und er verpasste einen Einsatz nach dem anderen. Auch Federer wusste kaum, wie ihm geschah. Am liebsten hätte er sich die Hose vom Leib gerissen, so sehr peinigte ihn das lustvolle Kitzeln, und gleichzeitig wollte er es. Er wagte nicht zu Vera hinüberzusehen.

Der Geiger spielte furchtbar falsch. Endlich, mit dem Beginn des Finales, bekam er, anders als Federer, eine Verschnaufpause. Das Duett aus dumpfem Hammer und Blech entband ihn für einen Augenblick von seiner Spielpflicht. Die Melodie war die Stimme des Todes, fürchterlich und verführerisch zugleich, unausweichlich zustrebend auf das Ende, die ersterbenden Schlussakkorde.

Für Federer wurde die Zeit endlos. Seine Erregung war an einem Punkt angelangt, an dem sie nach Erfüllung verlangte, beinahe schmerzhaft. Er dachte an den weiteren Verlauf des Abends, ihm wurde heiß. Seine Augen suchten nach einem neutralen Fixpunkt. Der angestrengte Geiger war dafür ungeeignet, ebenso der Opernglasgucker auf dem Balkon, der jetzt erst recht Federer und nicht dem Orchester seine volle Aufmerksamkeit zu widmen schien. Schließlich blieb Federers Blick hängen an den entblößten Brüsten der goldenen Karyatiden, die geduldig auf ihren Köpfen das Dach der Orgel trugen, und er starrte sie an, heftig atmend.

Dann war es so weit. Selbst der zeitlose und nicht enden wollende Schlusssatz der Symphonie klang aus. Wie elektrisiert hielt sich einige Takte lang eine vollkommene Stille im Saal, bevor begeisterter Applaus losbrach. Federer stimmte voller Erleichterung ein. Er klatschte aus Leibeskräften, blieb aber sitzen, trotz der stehenden Ovationen um ihn herum. Vera verhielt sich, als sei nichts geschehen, hatte ihren Schal lässig zurück über ihre Schulter geworfen, stand neben ihm, applaudierte und genoss die strahlende Atmosphäre, die sie umgab.

"Das war ein wunderbares Konzert. Ich habe das Stück noch nie gehört, aber es hat mir sehr gefallen."

"Das freut mich. Ich habe Ihnen also nicht zu viel versprochen?"

Sie verstand nicht, was er damit meinte, er nickte ihr zu, applaudierte weiter und erhob sich nun ebenfalls. Erst als die Orchestermitglieder, der Aufforderung des Dirigenten folgend, die Bühne verließen, ebbte der Beifall ab, und die Zuschauer strömten gemächlich auf die Ausgänge zu. Jeder blickte hierbei aufmerksam suchend umher, um nicht irgendwo in der Menge ein ihm bekanntes Gesicht zu übersehen, dessen Besitzer selbstverständlich erwartete, mit der ihm gebührenden Höflichkeit begrüßt zu werden.

Draußen, im Licht der blauen Dämmerung, besann Federer sich darauf, dass es nun an ihm war, den Weg zu ebnen für eine Fortsetzung seiner anregenden Konzerterfahrung. Vorsichtig tastete er sich voran.

"Das Konzert war also neu für Sie? Was treiben Sie denn sonst an Ihren Abenden?"

Wie er das sagte, kam es ihm anzüglich vor, fast biss er sich auf die Zunge.

"Ach, die Arbeit ist sehr anstrengend, so bin ich abends meist zu Hause und schaue fern. Und ich telefoniere gerne mit Freunden. Am Wochenende fahre ich oft heim. Meine Eltern haben eine kleine Wirtschaft in Spitz, wo ich gelegentlich aushelfe. Kennen Sie die Wachau?"

"Aber ja."

Federers Begeisterung war echt, nicht nur, weil er die lieblich schroffe Landschaft der Wachau mit ihren Weinbergen, steilen Felsen und mittelalterlichen Dörfern mochte, sondern auch, weil es endlich ein Thema gab, über das sie bis zu seiner Wohnung sprechen können würden.

"Ich bin erst seit vier Jahren in Wien. Meine Ausbildung habe ich am Spital in Melk gemacht."

"Und was hat Sie nach Wien geführt?"

"Ich wollte etwas Neues kennen lernen, und über eine Freundin von mir hat sich die Gelegenheit ergeben, hier mit der Arbeit an der Ambulanz anzufangen."

"Gefällt sie Ihnen denn?"

"Eigentlich schon, aber ich bin immer wieder froh, wenn ich am Wochenende aus der Hektik hier zurück aufs Land komme."

"Das kann ich gut verstehen, obwohl ich mir selbst ein Leben ohne die Stadt nicht vorstellen kann. Ich brauche diese täglichen Überraschungen, so wie die, dass wir uns heute getroffen haben."

Sie lachte.

"Glauben Sie, bei uns auf dem Land, da trifft man keine Menschen? Ich habe dort mehr Leute kennen gelernt als hier in der Stadt, aber das ist mir auch ganz recht so. Ich brauche meine Ruhe, meine eigene Welt. Wo gehen wir denn jetzt hin?"

Sie hatten bereits den Ring überquert und schlenderten vorbei am bunten Gemisch der Straßenmusikanten die Kärntner Straße hinauf. Irgendwie wirkte Vera nervös, blickte sich ein-, zweimal um, doch Federer vermied es sie darauf anzusprechen.

"Ich wollte vorschlagen, dass Sie noch auf ein Glas Wein mit zu mir hinaufkommen."

"Ach, das tut mir Leid, aber ich muss heute früh ins Bett ..."

Er fand, dass sich das durchaus mit seinen Absichten deckte, aber das verschwieg er ihr.

"... Ich habe morgen einen sehr anstrengenden Tag. Die beiden Frauen zur Fettabsaugung, die sich heute vorgestellt haben, kommen gleich in der Früh an die Reihe, da sie bis zum Urlaub wieder gut aussehen wollen, und dann haben wir noch zwei reguläre Brustvergrößerungen."

"Sie wollen mich also schon verlassen?"

Sie hatte doch vorhin im Konzert ..., aber sollte er das ansprechen?

"Ich werde am besten gleich am Stephansplatz in die U-Bahn steigen. So komme ich am schnellsten nach Hause. Dann nehme ich noch ein Bad und bin auch schon in meinem Bett."

"Ich..." Er zögerte. "...ich könnte Sie noch begleiten."

"Wie meinen Sie das?"

"Ich könnte noch ein Stück weit mit Ihnen kommen."

Die Worte hallten in seinem Kopf nach, und er bekam feuerrote Ohren.

"Nein, das ist nicht nötig. Ich bin zwar vom Land, aber ich finde mich schon zurecht."

Das war eine herbe Enttäuschung für Federer. Wieder lag eine einsame Nacht vor ihm. Aus Erregung würde Frust. Doch seinem diskret erwachenden Ärger nachzugeben war nicht seine Art. Er war auf einmal selbst müde, verspürte einen Kopfdruck, der sich zum Schmerz, zu einer wahren Migräne auswachsen mochte.

"Sehen wir uns denn wieder?", fragte sie auf einmal.

Ein Funken Hoffnung regte sich in ihm.

"Von mir aus gerne. Wie wäre es mit morgen Abend?"

"Ja, das geht sich aus."

"Es gibt morgen in der Nähe meiner Wohnung eine Vernissage in einer Galerie. Wir könnten gemeinsam dorthin gehen."

"Das hört sich fein an."

"Na, dann sagen wir um sieben Uhr bei mir? Die Adresse kennen Sie ja."

"Ist gut."

Sie hatten den Stephansplatz erreicht.

"Also bis morgen."

Er neigte sich ihr zu, um sie zaghaft zu umarmen und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu werfen, aber sie streckte ihm auf halbem Wege ihre Hand entgegen.

"Ich komme dann vorbei."

Und schon verschwand sie in der Unterführung zur U-Bahn. Federer blieb stehen und sah ihr nach, war wieder allein. Jemand drückte ihm einen Werbezettel für eine Go-go-Bar in die Hand. Er fand das unpassend, freute sich auf einmal mehr als sonst auf die überschwängliche Begrüßung durch Marilyn. Sie war verlässlich. Kaum betrat er seine Wohnung, sprang sie auch schon quietschend vor Begeisterung an ihm hoch. Er trug sie noch kurz auf die Straße hinunter und stand dann vor der Wahl, mit einer Kopfschmerztablette, mit einem starken Kaffee oder mit einer Flasche Wein den Abend ausklingen zu lassen. Er entschied sich für eine Kombination aus Schmerzmittel und Wein. In seinem Kühlschrank lag ein trockener, schwerer Riesling aus der Wachau. Er schien der Situation angemessen.

Federer entkorkte die Flasche, füllte ein Glas, probierte einen Schluck, spülte mit dem nächsten die Tablette hinunter und begab sich ins Wohnzimmer. Dort entzündete er die Kerzen auf der Kommode, legte das Finale von Mahlers Zweiter auf und nahm Platz in seinem alten Ohrensessel. Bereits nach dem dritten Glas Wein begann er von dort aus im Sitzen zu dirigieren und genoss mit zunehmendem Rausch die Hingabe an die Musik. Das musste Freud mit Sublimierung gemeint haben. Als die Symphonie geendet hatte und die Flasche geleert war, ging er zu Bett. Er fiel sofort in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf, träumte wild in dieser Nacht, Träume, die ihre Spuren nicht in der bewussten Erinnerung hinterlassen, sondern verborgen in einem weiterleben.