Wien-Krimi im Psychoanalytikermillieu

Die Notizen des Doktor Freud

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erschienenen Buchs "Die Notizen des Doktor Freud".

Mehr zu Hans-Otto Thomashoff in oe1.ORF.at

6. Der Mord

Der Wecker dröhnte. Sein Kopf war schwer. War er irgendwann in der Nacht schweißgebadet aufgewacht und noch einmal auf die Straße hinuntergegangen? Oder hatte er das nur geträumt? Er brauchte einen Augenblick, bis er zu sich fand. Marilyn lag bei ihm, eingerollt auf seiner Decke am Fußende, und ließ sich vom Lärm des Weckers in keiner Weise stören. Er erhob sich vorsichtig und ging ins Bad. Sein Gegenüber im Spiegel verlangte nach einer Rasur, aber dafür war es noch zu früh. Federer grüßte nur kurz und war überrascht über den herben Klang seiner Stimme. Er zog sich an und hatte das Haus bereits verlassen, obschon er noch im Halbschlaf war. In der Stadt herrschte reges Treiben, eingetaucht in gleißendes Morgenlicht.

Wie von selbst trugen ihn seine Füße zum Haus Doktor Bergassers. Er trat ein in das dunkle Stiegenhaus, läutete und wartete. Nichts geschah.

Er läutete erneut, doch nichts rührte sich. Bergasser musste ihn überhört haben. Federer versuchte es wieder, wurde langsam wach, während sich drinnen immer noch nichts regte. Heute war Dienstag, und dienstags hatte er seine Stunde morgens um acht. Er schaute auf seine Uhr, es war kurz nach acht. Ob Bergasser verschlafen hatte? Doch die Ordination lag neben der Wohnung des Analytikers, er hätte das Klingeln also in jedem Fall hören müssen. Noch nie hatte Bergasser eine vereinbarte Stunde ausfallen lassen, er legte großen Wert auf exakte Abmachungen. Auch weiteres Läuten blieb ohne Reaktion. Federer wurde unruhig. Sollte Bergasser etwas zugestoßen sein?

Nein, der Fehler lag sicher bei ihm selbst. War heute gar nicht Dienstag? Er zählte die Tage nach, doch er hatte sich nicht geirrt. Es war auch kein Feiertag oder Ferientag. Hatte Bergasser etwas von einem Kongress erwähnt? Vielleicht war er bei einem morgendlichen Einkauf aufgehalten worden? Doch dafür war es noch sehr früh.

Federer suchte weiter nach einer Erklärung, keine war plausibel. War Bergasser gestern nicht irgendwie verändert gewesen, selbst wenn er das abgestritten hatte?

Er legte seinen Finger für eine ganze Minute auf die Klingel. Keine Reaktion. Es war bereits zwanzig nach acht. Schließlich gab er auf, lauschte noch einmal und ging dann, weiter horchend, langsam die Stiegen hinunter, ohne dass er das geringste Geräusch vernommen hätte.

Er würde von zu Hause aus versuchen zu telefonieren. Das ihm gegen seinen Willen von Stankovic aufgezwungene Handy trug er nur im Dienst bei sich und auch das nicht immer. In seiner Wohnung angekommen, ging er gleich zum Telefon, ignorierte das Winseln des Hundes aus dem Schlafzimmer. Er begann sich Sorgen zu machen, tat dies ab als eine seiner bekannten Ängste, aber es half nichts. Hastig durchblätterte er sein Telefonbuch nach der Nummer Bergassers und wählte, aber niemand antwortete ihm. Er legte den Hörer auf, drückte nervös die Wiederwahltaste. Endlich regte sich etwas am anderen Ende der Leitung. Eine missgelaunte, ihm unbekannte Stimme meldete sich verschlafen. Federer hatte sich verwählt, tippte erneut die Nummer aus dem Telefonbuch ein, aber wieder hob niemand ab. Sollte er warten, aber wie lange noch? Eine Stunde zu vergessen, passte einfach nicht zu Bergasser.

Zuletzt folgte Federer seiner angstvollen Ahnung, rief über das Dezernat eine Streife zu Bergassers Ordination und machte sich selbst sofort wieder auf den Weg dorthin.

Von nun an ging alles ganz schnell, lief einfach ab vor seinen Augen, ohne dass er Einfluss darauf hatte. Die beiden Beamten von der Streife brachen die vertraute Ordinationstüre auf. Der Flur war leer, die Tür zum Behandlungszimmer war angelehnt. Sie traten ein.

Der Analytiker saß an seinem Schreibtisch im Sessel, nach hinten gelehnt, starr. Sein Mund stand offen, sein Gesicht war blau angelaufen, die Augen aufgerissen, unbeweglich, tot. Er musste erwürgt worden sein. Federer wollte auf ihn zustürzen, doch er war wie angewurzelt. Er wollte schreien, aber sein Schrei erstarb lautlos. Er blickte auf die Couch, die wartend dastand. Es konnte nicht wahr sein, durfte nicht.

Die Kollegen von der Spurensicherung wurden angefordert, trafen ein, begannen mit ihrer Arbeit. Federer stand nur dabei, passiv. Aus seiner Verzweiflung wurde plötzlich Wut. Bergasser hatte ihn belogen. Es drängte ihn nach draußen. Er entschuldigte sich bei den ermittelnden Kollegen und ging hinunter auf die Straße. Dort schien weiter die Sonne, es war warm, die Stadt war voller Leben. War alles nur ein böser Traum? Er schloss die Augen, atmete tief durch. Doch nichts hatte sich geändert, als er sie wieder öffnete.

Schweren Schrittes stieg er wieder hinauf, sah sich pflichtbewusst, aber verloren um, vielleicht ein letztes Mal in dem Behandlungszimmer, erstmals auch in den angrenzenden Wohnräumen des Analytikers. Alles erschien ihm fremd und unwirklich. Geschäftig und doch beinahe geräuschlos wurde überall systematisch nach Spuren gesucht, Fotos wurden gemacht, und die Leiche Bergassers wurde auf eine Bahre gelegt, um in die Gerichtsmedizin abtransportiert zu werden. Federers Blick fiel auf die Hände des Analytikers. Den warmherzigen, festen Händedruck würde er nie mehr entgegennehmen. Wie absurd, dass Bergasser beide Hände zu einem Victory-Zeichen gefaltet hatte, als hätte er und nicht der Tod gesiegt. Für Federer gab es hier nichts mehr zu tun. Bergasser war erwürgt worden. Von einem Täter oder einem Motiv fehlte bislang jede Spur, aber das war nicht ungewöhnlich, ein weiterer Mordfall am Dezernat. Und doch war alles anders als sonst. Gemeinsam mit den Kollegen verließ er den Tatort und sah noch, wie hinter ihm die Ordination versiegelt wurde. Dann stand er wieder auf der Straße.