Wien-Krimi im Psychoanalytikermillieu

Die Notizen des Doktor Freud

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erschienenen Buchs "Die Notizen des Doktor Freud".

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4. Leichenmusik von einem Streichkäseorchester

In seiner Wohnung riss er alle Fenster auf, wie um die sonnendurchtränkte Brise einzufangen. Unter der aufmerksamen Bewachung Marilyn warf er ein Schnitzel in die Pfanne, das er selbstverständlich mit ihr teilen würde. Er fragte sich, ob er sie zu sehr vermenschlichte; sie wedelte mit dem Schwanz.

Nach dem Essen nahm er geruhsam ein Bad. Die trüben Gedanken der letzten Tage und Wochen waren wie weggeblasen, wenn er an die kommenden Stunden dachte. Das Konzert, eine der seltenen Aufführungen von Mahlers zehnter Symphonie, erst Jahrzehnte nach seinem Tod vollendet, versprach für sich alleine genommen schon ein Ereignis zu werden. Doch das war auf einmal ohne Bedeutung. Er strich im Wasser über seinen Körper. Ja, er vermisste Cecilia, aber gerade deshalb sehnte er sich nach einer Frau. Und wenn er Vera kaum kannte, eigentlich gar nicht, was machte das schon? Instinktiv fühlte er sich zu ihr hingezogen, sie war ihm vertraut aus seinen Fantasien und Träumen. Bei ihr würde er sich aufgehoben fühlen, einfach fallen lassen können bis an den Rand der Besinnungslosigkeit, so wie bei Cecilia. Doch nein, an sie wollte er jetzt nicht denken. Sie war nicht da, und das Leben lief weiter. Was zählte, war der Augenblick. Er entspannte sich, stellte sich Veras Körper vor, wie er eins mit dem seinen würde. Da läutete das Telefon, schaltete auf den Anrufbeantworter:
"Ciao caro, ich bin es, Cecilia ..."

Wie elektrisiert sprang Federer aus der Badewanne. Er stolperte über Marilyn, die es sich auf dem Vorleger bequem gemacht hatte, und stürzte der Länge nach auf den Boden.
"... Du bist offenbar gerade nicht zu Hause, ich melde mich wieder, alles Liebe ..."

Er raffte sich auf und hastete ins Wohnzimmer, während Marilyn mit eingezogenem Schwanz und einer Schaumkrone auf dem Kopf unter dem Sofa verschwand. Als er den Hörer abnahm, war es zu spät. Das monotone Freizeichen war alles, was ihm von dem lang ersehnten Anruf blieb.

Fluchend humpelte er zurück ins Badezimmer und trocknete sich ab. Seine vorfreudige Stimmung war erst einmal verflogen. Er schaute auf die Wanduhr. Es war längst Zeit, sich anzukleiden. Als er schließlich in einem Anzug vor dem Spiegel stand, ging es ihm wieder besser.

Sollte er versuchen, Cecilia zurückzurufen? Von wo aus hatte sie sich gemeldet? Unsicher nahm er wieder den Telefonhörer zur Hand, wählte die ihm nur zu gut bekannte Nummer, doch in ihrer Wohnung erreichte er sie nicht. Sie wolle sich wieder melden, hatte sie gesagt.

Es war kurz vor halb sieben, und er ging zu einem der offenen Fenster, schaute auf den Platz hinunter und wartete. Würde Vera wirklich kommen? Er fasste sich an den Kopf, er hatte vergessen, ihr seine Telefonnummer zu geben, und sein Name stand nicht im Telefonbuch, da seine Mutter in ihrem Verfolgungswahn auf einer Geheimnummer bestanden hatte. Und von Vera wusste er nicht einmal, ob ihr Name überhaupt stimmte. Sie musste einfach kommen. Die Turmuhr schlug halb. Er zog Marilyn unter dem Sofa hervor. Seit seinem unbeabsichtigten Überfall war sie dort reglos liegen geblieben und ließ sich nun beleidigt, aber erleichtert hochheben, um ihre Nase ebenfalls in den frühen Sommerwind zu stecken. Noch immer war nichts zu sehen von Vera. "Fettabsaugung", hatte sie gesagt. Ihn schauderte bei der Vorstellung.

Doch auf einmal war sie da. Er sah sie neben der Franziskanerkirche. Sein Puls ging schneller, sein Atem tiefer, und die Bilder, die er sich vorhin im Bad ausgemalt hatte, waren mit einem Schlag so gegenwärtig, als seien sie bereits Realität gewesen. Es läutete. Er begrüßte sie über die Gegensprechanlage und öffnete das Haustor. Dann trat er in das Stiegenhaus und lauschte ihren Schritten. Fast fürchtete er sich vor seiner eigenen Courage. Versprach er sich nicht zu viel?

Als sie dann vor ihm stand, brachte er kein Wort heraus. Ihr Anblick entwaffnete ihn.
"Guten Abend."

Er gewann seine Fassung wieder. Auch Marilyn schien außer sich vor Begeisterung. Sie sprang an Vera hoch und wurde ebenso freudig zurückbegrüßt.

"Der ist ja ganz herzig, und wie er mit seinen Hüften wackelt. Wie heißt er denn?"

"Das ist Marilyn, aber treten Sie doch bitte ein. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?"

Sie trug keinen Mantel, da es dafür viel zu warm war, und verstand ihn nicht.
"Ach entschuldigen Sie, Sie haben ja gar keinen."

Ohne dass sie ahnte, was er gerade dachte, lächelte sie. Er bat sie herein in sein Wohnzimmer.

"Schön haben Sie es hier."

"Oh, danke."

Weiter wusste er nicht, und es entstand wieder eine Pause. Dabei gab es doch so viel zu sagen. Schließlich fiel ihm das abendliche Konzert ein.

"Wir haben heute besonderes Glück. Die zehnte Symphonie von Mahler wird nur sehr selten gespielt. Sie wurde erst nach seinem Tod fertig gestellt ..."

Sie schaute ihn fragend an.

"... Mahler war von seinen Ärzten mitgeteilt worden, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er hatte sich einen Herzklappenfehler zugezogen und war besessen von der Angst, während oder nach der Arbeit an einer neunten Symphonie zu sterben, so wie vor ihm Beethoven, Schubert, Bruckner und zuletzt Dvorak ..."

"Dann hat der Tod sie alle gezwungen, das Letzte aus sich herauszuholen?"

Ein Funkeln zuckte kaum merklich über ihre Gesichtszüge, irritierte Federer kurz, doch er setzte unbeirrt seine Ausführungen fort.

"... Mahler hat sich lange nicht getraut, seine Neunte zu schreiben, und erst sein Lied von der Erde komponiert. Er sollte Recht behalten. Kurz nachdem sie fertig war, starb er, und von der geplanten Zehnten blieben nur ein Satz und einige Skizzen ..."

"Man kann seinem Schicksal nicht entkommen."
"... Jedenfalls wurde in den sechziger Jahren aus diesen Skizzen eine vollständige Symphonie zusammengestellt ..."

Sie lachte herzhaft, beinahe derb: "Eine Totensymphonie."

" ... von einem Amerikaner. Und die hören wir heute mit dem Philadelphia Orchestra, dem ersten Orchester, unter dem die vollständige Symphonie jemals aufgeführt wurde. Authentischer könnte das Konzert also kaum sein."

Er hatte sich richtig in Fahrt geredet, beflügelt von Veras plötzlich gewecktem Interesse und von seiner eigenen Begeisterung.

"Leichenmusik von einem Streichkäseorchester, das beginnt echt spannend zu werden."

Ihre Bemerkung verunsicherte ihn. Doch er brauchte sie nur anzusehen, und schon verflüchtigte sich jeder Zweifel.

"Stört es Sie, wenn ich rauche?"

Federer war Nichtraucher, kein dogmatischer Frischluftfanatiker, aber einer, dem die Vorstellung von abgestandenen Rauchschwaden in seiner Wohnung keineswegs behagte.

"Nein, überhaupt nicht."

Sie zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an, deren süßlicher Duft Federer sonderbar vorkam. Schon nach den ersten Zügen lächelte sie merkwürdig abgehoben, während er sich nach einem in seinem Haushalt nicht vorhandenen Aschenbecher umschaute, schließlich auf eine leere Espressotasse zurückgriff.

"Ein Freund von mir im Waldviertel baut es selbst an. Es ist wirklich ein ganz feines Gras. Möchten Sie auch einmal probieren?"

Federer wand sich innerlich bei dem Gedanken an Drogen in seiner Wohnung, rauchte er doch sonst nicht einmal Tabak. Aber er ließ sich von ihr die Zigarette geben und zog zögerlich an ihr, bevor er sie ihr zurückreichte. Gequält höflich und erleichtert, dass er keine Wirkung verspürte, bedankte er sich und war bemüht, über etwas anderes zu reden.

"Der Tod scheint Sie zu faszinieren?"

"Irgendein Ziel muss ich mir doch im Leben setzen, und bei dem bin ich mir wenigstens sicher, dass ich es erreichen werde."

"Wenn Sie meinen. Ich versuche eher mein Leben zu füllen, es so bunt, so ereignisreich wie möglich zu gestalten."

Noch während er sprach, bezweifelte er im Stillen, was er da sagte, denn er hielt sich nicht wirklich an dieses Ideal, wenn es denn eines war. Sein Blick fiel auf das Sofa.
"Wollen wir uns nicht setzen?"

Doch bevor er ihr etwas zu trinken anbieten konnte, unterbrach der Glockenschlag der Franziskanerkirche jede weitere Konversation.

"Wir müssen aufbrechen."

"Ja."

Den Hund ließ er nicht mehr hinaus. Er würde ihm als Vorwand dienen, um nach dem Konzert direkt in die Wohnung zurückzukehren, mit ihr.

Fortsetzung folgt

Das nächste Kapitel der Notizen des Doktor Freud lesen Sie kommende Woche in Ihrem Ö1 Newsletter.