Wien-Krimi im Psychoanalytikermillieu

Die Notizen des Doktor Freud

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erschienenen Buchs "Die Notizen des Doktor Freud".

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2. Bei Bergasser

Wenig später stand er vor der vertrauten Tür, läutete und wartete. Seit er sie kannte, diese Tür, hatte sie sich kaum verändert, war sie gezeichnet von den Spuren der Zeit. Wie oft waren seine Augen schon an den Rissen in der abblätternden Farbe entlanggewandert, waren an den in der Tiefe aufscheinenden älteren Farbschichten hängen geblieben, stillen Zeugen einer nur scheinbar verborgenen Vergangenheit. Auch seine eigene Geschichte hatte hinter dieser Tür in immer neuen Facetten Gestalt angenommen. Da hörte er Schritte von drinnen, und sie wurde geöffnet.

Doktor Bergasser begrüßte ihn mit einem warmherzigen Händedruck. Federer ging an ihm vorbei ins Ordinationszimmer, legte sich auf die von Kissen übersäte Couch und begann zu sprechen, sobald der Analytiker hinter ihm Platz genommen und die Beleuchtung heruntergeschaltet hatte. Aber wirkte Bergasser heute nicht verändert? Federer fand, er habe ihn beim Hereinkommen kaum angesehen. Es war nur eine dumpfe Ahnung, für die er keine konkrete Begründung hätte geben können.

"Entschuldigen Sie, dass ich mich ein wenig verspätet habe."

Er war das letzte Stück gelaufen, hatte unten an der Straßenecke beinahe eine auf zwei Krücken gestützte Dame umgerannt und war dann doch einige Minuten zu spät eingetroffen. Er wusste, dass Bergasser erst einmal nichts sagen würde, und setzte selbst wieder an:

"Als ich vorhin aus dem Haus trat - ich habe mir heute Vormittag frei genommen -, da habe ich eine Frau gesehen ..."

"Hm."

"... Sie sah umwerfend aus. Ich wollte zu ihr, aber ich musste ja zu Ihnen ..."

Er machte eine Pause, ließ den Satz wirken, und Bergasser fing den Ball auf.

"Sie sagen das so, als seien Sie meinetwegen verpflichtet, hier in die Stunde zu kommen."

"Ja, aber das bin ich doch."

Bergasser schwieg.

"Wenn ich einen Termin bei Ihnen habe, dann kann ich doch nicht einfach wegbleiben ... - und ich kenne die Frau überhaupt nicht, ich weiß gar nichts von ihr. Sie saß einfach da auf dem Platz direkt unterhalb von meiner Wohnung, in dem kleinen Café. Das Licht spielte in ihrem Haar ... vielleicht erinnert sie mich an Cecilia? ... Mit ihr habe ich seit Wochen keinen Kontakt, seit dieser Reise, auf der wir uns so gut verstanden haben ... Sie ist trotzdem in Rom geblieben. Sie will ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben. Wir sind seit fast acht Jahren zusammen, immer nur für kurze Zeit. Und doch sind wir uns sehr nah gekommen. Aber vielleicht hat ihre Familie etwas gegen mich, weil ich Wiener bin und bei der Polizei. Sie ist eine Contessa d´Alberi, aus altem römischem Adel. Ich habe bisher nie einen Verwandten von ihr zu Gesicht bekommen, aber eigentlich ist das völlig in Ordnung so. Wir brauchen, wenn wir zusammen sind, nur uns beide. Und Cecilia selbst ist die Letzte, die sich Konventionen unterwirft, sie ist frei, fast wie ein wildes Tier ... Und gerade das liebe ich an ihr ...

Doch ich glaube, es geht nicht um ihre Verwandtschaft, sondern sie kommt nur nicht los von ihm, obwohl er schon so lange tot ist, von ihrem Mann. Er und ihr Sohn starben bei einem Unfall …

Aber ich halte diese ewige Trennung von ihr nicht mehr aus …

Dann sehe ich vorhin diese Frau, und auf einmal ist alles anders. Es gibt nur noch sie, und ich muss zu ihr. Nur weiß ich nicht wie, stelle mich an wie ein Schuljunge. Ich bin auf sie zugegangen, habe sie gebeten, bis zu meiner Rückkehr zu warten, aber sie wird wohl kaum noch dort sein ..."

Bergasser räusperte sich, mehr nicht. Federer wechselte das Thema.

"... Mir fiel auf, dass Sie vorhin so verändert waren, als ich hereinkam. Sie wirkten irgendwie verwirrt - nein, das ist nicht das richtige Wort -, zerstreut, zerstreut ist besser."

"Aha?"

"Ich weiß nicht, woran ich es festmachen soll. Es ist eher so ein unbestimmtes Gefühl. Sie wirken sonst immer so gefasst, ganz korrekt, als seien Sie hellwach und doch voller Ruhe. Aber heute beim Hereinkommen, ich weiß nicht ...

Da trete ich aus dem Haustor und sehe diese Frau. Cecilia? Ja, ich vermisse sie und doch habe ich das Gefühl, ich sollte alles stehen und liegen lassen für diese Unbekannte, und dabei … ja, ich kenne sie überhaupt nicht …

Ich bin so durcheinander. Ich weiß nicht weiter ..."

Er verstummte.

Dann vernahm er die beruhigende Stimme des Analytikers. Sie schien ihn zu tragen, gab ihm Halt. Er konnte sich verlassen auf ihre unerschütterliche Kraft. Er musste sich eingangs getäuscht haben, alles war wie immer.

"Fassen wir also zusammen: Sie kamen heute zu mir, obwohl Sie eigentlich lieber etwas anderes getan hätten. Sie vermissen Cecilia, doch dann hat es Ihnen diese Unbekannte angetan. Nur statt bei ihr zu bleiben, sind Sie jetzt hier."

"Aber ich habe sie gebeten zu warten, bis ich wieder zurück bin. Vielleicht tut sie das ja. Nur weiß ich nicht, ob ich nicht in Wirklichkeit doch zu Cecilia möchte. Oder ist das nur eine Ausrede, aus Angst, von der Unbekannten abgewiesen zu werden?"

"Und ich wirkte heute auf Sie zerstreut?"

"Wollen Sie damit andeuten, ich rede mir das alles nur ein, weil ich selbst nicht weiß, was ich eigentlich will? …

Ich konnte mich nie frei entscheiden in meiner Kindheit, es drohte immer Chaos zu Hause ..."

"Nur halten Sie selbst diese Unfreiheit noch bis heute lebendig. Gegen Ihren eigentlichen Willen kommen Sie zu mir in die Stunde, so, als ob ich das von Ihnen verlangte."

"Aber ich habe auf einmal Angst … Es erinnert mich an die Krisen meiner Mutter. Wenn sie ins Spital kam, und ich vollkommen allein war..."

"Sie haben also Angst davor, zurückgewiesen oder im Stich gelassen zu werden, und gleichzeitig sehnen Sie sich nach Liebe. Vielleicht ist Ihre Sorge um mich heute ein Ausdruck dieser Liebe auch zu mir, die in Ihnen dann gleich die Furcht weckt, Sie könnten mich verlieren."

Die Stunde war zu Ende. Widerwillig erhob Federer sich und blickte Bergasser an.

"Ich weiß immer noch nicht was, aber etwas war heute anders als sonst."

Der Analytiker lächelte milde und reichte ihm die Hand: "Wir sehen uns morgen früh."