Der Koffer und die Transzendenz

"Geschichten über Ehe und Sex", Teil IX

In "Geschichten über Sex und Ehe" befasst sich der tschechische Bestsellerautor Michal Viewegh mit viel Humor mit den, wie er meint, zwei wichtigsten Themen der Menschheit: dem Sex und der Ehe. Die 21 Erzählungen, die durch den Protagonisten Oskar miteinander verbunden sind, zeichnen den häufigen Verlauf von Liebes- und Lebensbeziehungen nach und fügen sich in ihrer Gesamtheit zu einem Roman mit starken autobiografischen Zügen.

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erscheinenden Buchs "Geschichten von Ehe und Sex".

Kapitel VIII: Der Koffer und die Transzendenz

1. Die Straße am Stadtrand von Prag, wo Oskar und Zuzana vor einigen Jahren eine Wohnung bekommen hatten, führte durch die vier verstaubt wirkenden Plattenbauten von der gleichen Bauweise wie ihrer und fiel leicht zu dem großen umzäunten Viereck zusammengestampften schwarzbraunen Lehms ab, der den hiesigen Kindern als Spielplatz diente. Beim Gehsteig parkten nur ein paar Autos (die meisten Einwohner dieser Siedlung waren wie üblich fürs Wochenende irgendwohin außerhalb Prags gefahren), so daß das herankommende aufpolierte Taxi direkt vor dem Eingang stehenbleiben konnte. Der Taxifahrer warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett, ließ mit einem Knopfdruck das Fenster herunter (er besaß diesen Wagen erst seit drei Wochen, und all diese kleinen Finessen bereiteten ihm immer noch stille Freude) und legte sich auf dem Lenkrad die Samstagsausgabe des "Blesk" auf; er blätterte in der Zeitung mehr, als sie zu lesen, und schaute in regelmäßigen kurzen Abständen zur gläsernen Eingangstür des Plattenbaus.

Gleich darauf erblickte er einen noch unvorbereiteten Oskar: in seinem Gesicht lag noch immer jener nervöse Ausdruck, der sein Gesicht beschlichen hatte, als er sich vor wenigen Sekunden im Stiegenhaus voller Schrecken vergewisserte, ob er wegen des vorherigen Streits mit seiner Frau nicht die Flugtickets, den Paß, das Versicherungsdokument, das Geld, die VISA-Karte oder den Zettel mit den Adressen und Telefonnummern zu Hause vergessen hatte. Der Taxifahrer grinste leichthin, aber dennoch merklich (das war sogar Oskar aufgefallen), blätterte noch kurz in der Zeitung, faltete sie ohne Hast zusammen und stieg etwas gelenkiger, als Oskar im Hinblick auf seine Leibesfülle angenommen hatte, aus dem Wagen. Er trug Nike-Sportschuhe, eine rote Trainingshose der selben Marke und ein weißes T-Shirt der Firma Umbro; er war wohl so um die fünfzig, so daß Oskar ihn als erster grüßte.

2. "Weißt du, was mich interessieren würde?" hatte Zuzana an diesem Morgen schon zum zweiten Mal zu Oskar gesagt. "Wann du uns auch einmal irgendwohin mitnehmen wirst?"

Oskar bekam beim Kofferpacken eine immer größere Wut auf sie. Wann du uns auch einmal irgendwohin mitnehmen wirst? Wenn es ihr paßte, rückte sie mit der Familie an. Ihre primitive Demagogie konnte er einfach nicht ertragen! Er wollte nur in Ruhe packen und wegfahren, mehr wollte er von ihr nicht, bloß sie suchte Streit mit ihm - er hatte das schon daran erkannt, wie sie ihm in der Wohnung ständig hinterherlief. Er versuchte, die Schlafzimmertür hinter sich zu schließen, aber sie kam dahergelaufen und öffnete die Tür wieder.

"Hier wird sich niemand einschließen!" sagte sie drohend.

Da war ihm schon klar, daß sie ihn nicht in Ruhe abfahren lassen wollte. Sie mußte ihm einfach die Suppe versalzen.

"Wir waren zusammen auf Winterurlaub, und wir waren zusammen auf Sommerurlaub," teilte er ihr möglichst ruhig mit. "Also laß das bitte. Laß mich in Ruhe abfahren."

Seine Frau schüttelte den Kopf, und in den Mundwinkeln erschien ihr boshaftes Grinsen, das Oskar nie ertragen konnte.

"Nein, nein, ich meine nicht den Urlaub ... Das ist wohl normal, daß eine Familie gemeinsam auf Urlaub fährt, oder? Ich frage, wann du uns einmal zu einer Lesung im Ausland mitnimmst?"

Es irritierte ihn, wie sie diese Wortfolge aussprach - Lesung im Ausland.

"Wenn man zu einer Lesung im Ausland auch die Gattinnen und Kinder der Autoren einladen wird - dann. Man hat mir ein Flugticket geschickt - nicht drei. Wenn sie mir einmal drei Flugtickets schicken, dann fliegen wir natürlich alle."

Sie schüttelte mißbilligend den Kopf.

"Hättest du gewollt, hättest du ruhig zwei Tickets dazukaufen können ..."

Das stimmte nicht - und sie wußte es.

"Hätte ich nicht können, weil ich mir das nicht leisten kann."

"Aber ein neues Sakko und einen Koffer konntest du dir leisten ..."

"Und womit hätte ich deiner Meinung nach fahren sollten?" herrschte er sie an. "Mit einem Skirucksack?!"

"Schrei mich nicht an," erwiderte Zuzana böse. "Du weißt sehr wohl, daß wenn du dir einen billigeren Koffer gekauft hättest und wenn du dir nicht teure Sakkos und Hemden gekauft hättest, etwas für die Flugtickets übriggeblieben wäre."

Sie ist eine Krämersfrau, schoß es ihm ein.

"Zumindest für ein Ticket!" sagte sie.

Ich lebe mit einer Krämersfrau! sagte er sich traurig. Er blickte sie mit unverhohlener Verachtung an - das kritisierte neue Sakko, das er vor einer Weile angezogen hatte, erleichterte ihm einen solchen Blick.

"Das war mein Geld," sagte er kühl und zurückhaltend. "Ich habe es verdient."

Er fühlte sich jämmerlich - noch bevor er den Satz zu Ende gesagt hatte. Warum ließ er sich immer wieder provozieren, sich auf ihr Niveau herabzulassen?

"Irrtum, Bürschchen. Du hast dir nämlich, falls du es zufällig vergessen hast, eine Familie zugelegt ... Also ist das unser Geld."

Entsetzt beobachtete er, wie sich das Gesicht seiner eigenen Frau vor Haß verzog.

3. Das Taxi war ein neuer dunkelblauer Passat, was Oskar in seinem Innersten mit kindischer Freude erfüllte. Ab dem Zeitpunkt, als er sich im Gang des Hauses vergewisserte, daß er das Geld, die Tickets und die entsprechenden Dokumente wirklich in der Aktentasche mithatte, sah er schon ganz ruhig und ausgeglichen aus. Er zwang sich, nicht zu eilen. Der Taxilenker ging um den Wagen herum, öffnete den Kofferraum und betrachtete gedankenversunken das strahlende Innere des Kofferraums, in dem kein einziges Staubkörnchen zu finden war; am Zeigefinger der rechten Hand ließ er dabei die Zündschlüssel mit einem massiven silbernen Anhänger mit dem Mercedes-Zeichen kreisen. Oskar blickte kurz zu ihm auf und stellte ihm dann seinen Koffer bedächtig zu Füßen; er spürte, daß er sich dies unter anderem gerade deshalb erlauben konnte, weil der Koffer sündteuer war, ein Markenkoffer. Dann kehrte er mit einer Würde, deren Erzwungenheit nur von Menschen entlarvt werden hätte können, die Oskar wirklich gut kannten, langsam zum Eingang zurück, sperrte den Postkasten auf (er war selbstverständlich leer, weil er ihn am Vortag selbst geleert hatte und am Samstag keine Post ausgetragen wurde) und sperrte ihn wieder zu. Der Taxifahrer verstaute in der Zwischenzeit mit verfinsterter Miene den Koffer.

Durch diesen kleinen Triumph stieg Oskars Selbstbewußtsein vorübergehend so sehr, daß er gleich darauf zwei Dinge tat, die er in einem Prager Taxi meist nicht fertigbrachte: er setzte sich wie selbstverständlich nach hinten und schwieg die ganze Fahrt über gleichgültig. Er war sich zwar bewußt, daß sein konsequentes Schweigen notgedrungen etwas unhöflich oder gar unfreundlich wirkte, aber für sich selbst entschuldigte er es mit Argumenten wie Schon allein seine Kleidung ... und Schon allein sein Schlüsselanhänger ... Nach einer Weile beschäftigte er sich aber nicht mehr mit dem Taxifahrer. Er überzeugte sich nochmals, daß sich im Fach der Aktentasche seine Brieftasche, die Flugtickets und sein Paß befanden, er beobachtete die halbleere Straße und versuchte, an etwas anderes zu denken als an den vorangegangenen Streit mit seiner Frau - an etwas Beruhigendes, Angenehmes, Erhebendes. Er konnte sich jedoch nicht konzentrieren, und seine Gedanken schweiften ungeordnet umher. Er bemerkte mehrere Ehepaare, die auf dem Rückweg vom Wochenendeinkauf waren. Trotz all der schweren Taschen sahen sie recht zufrieden aus - allerdings wirkten auch sie, Zuzana und er, in der Öffentlichkeit so, kam Oskar zu Bewußtsein. Die Leute nahmen sie fast immer als glückliches Paar wahr. Bei der nächsten Ampel legte er sein neues Sakko ab, hängte es an den Haken auf der gepolsterten Wagendecke, um es nicht zu zerknittern, und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Der Taxilenker beobachtete ihn im Rückspiegel, aber Oskar hielt seinem Blick tapfer stand, wobei er ständig verdrossen dreinschaute - als ob er den Taxifahrer und vielleicht auch sich selbst überzeugen wollte, daß ihm die Fahrt zum Flughafen, von wo er in zweieinhalb Stunden nach Hamburg abfliegen würde, aufs äußerste auf die Nerven geht.

In Wirklichkeit war es jedoch anders: wie vor jedem Flug war Oskar zwar auch diesmal etwas nervös, aber zugleich freute er sich wie früher auch. In Wirklichkeit flog er gerne. Es gefiel ihm jene kosmopolitische Atmosphäre auf den Flughäfen, der ganze fremdsprachige Mummenschanz, der sich auf den polierten Marmorböden zwischen eleganten Geschäften und Bars abspielte, aber zugleich lag darin auch mehr - mit den Flughäfen verband Oskar bewußt seine postrevolutionäre Transzendenz, sein definitives Hinaustreten in die Welt. Es entbehrte nicht einer gewissen Logik: noch vor ein paar Jahren war er ein armer Lehrer an einer Grundschule, während er heute ein relativ bekannter, ordentlich bezahlter und sogar übersetzter Schriftsteller war, der - mir nichts dir nichts - nach Hamburg, Kopenhagen oder Helsinki fliegen konnte. Das einzige, was Oskar nun daran hinderte, sein immer noch frisches Weltbürgertum restlos auszukosten, war die Szene seiner Frau am Morgen - obwohl er sich bemühte, jetzt nicht daran zu denken.

4. Die großen Spiegel in den Toiletten in der Abflughalle zeigten auch diesmal die beste Figur, derer Oskar überhaupt fähig war: er war geduscht, rasiert, er hatte gewaschene Haare und hatte sich mit einem Parfüm von Hugo Boss eingeduftet; er trug außer dem schon mehrmals erwähnten neuen Sakko und Hemd frisch gewaschene und gebügelte schwarze Jeans und darunter gute Seidenboxershorts. Er trug auch neue Socken und sorgfältig geputzte Schuhe. Auch all seine im Koffer befindlichen Kleidungsstücke würden vor einem sehr kritischen Blick bestehen. Für die Toilettesachen hatte er sich sogar eine Toilettetasche ganz aus Leder gekauft. Er würde sich nicht genieren müssen, auch wenn fünf Zöllner gleichzeitig in seinem Koffer herumwühlen würden - plötzlich wünschte er sich beinahe, es möge ihn doch tatsächlich jemand ersuchen, freundlicherweise den Koffer zu öffnen ... Was war schon dabei, daß er insgesamt drei Seidenboxershorts hatte (die anderen zwei befanden sich natürlich im Koffer) und daß die übrige Unterwäsche zu Hause im Schrank in einem ziemlich erbärmlichen Zustand war (von den Socken ganz zu schweigen) - das konnte hier niemand wissen. Ebenso konnte auf dem Flughafen niemand ahnen, daß Oskar noch immer irgendwo am Stadtrand von Prag in einem Plattenbau wohnte. Sah er etwa danach aus, daß er in einem Plattenbau wohnte? In diesem Sakko um viereinhalb tausend Kronen und mit diesem Koffer hier? Kaum jemand von den Reisenden hatte einen so schönen Koffer - Ausländer nicht ausgenommen; als ihn Oskar am Dienstag gekauft hatte, fühlte er sich ohne Übertreibung schuldig und hatte den wahren Preis seiner Frau noch immer nicht verraten, aber jetzt, auf dem Marmorboden der Abflughalle (auf dem die Räder des Koffers so leicht dahinglitten) bestätigte sich eindeutig die Richtigkeit dieser Investition.

Bis zum Abflug des Linienflugzeuges blieben noch fast zwei Stunden. Jemand anderer hätte sich vielleicht Vorwürfe gemacht, daß er so früh zum Flughafen gekommen war, aber Oskar hingegen kostete diesen Zeitreserve aus. Ohne zu eilen, trank er in einer Bar einen großen Espresso und einen kleinen Sekt, gab der Barfrau ein etwas großzügiges Trinkgeld und fuhr mit seinem Koffer zu einem Zeitungsstand; er konnte nicht widerstehen und kaufte aus reiner Eitelkeit außer zwei tschechischen Zeitungen auch eine englische, obwohl er nur allzu gut wußte, daß die Lektüre im Hinblick auf sein durchschnittliches Englisch eher eine aufreibende Qual als ein Vergnügen sein würde. Ein bißchen spürte er den Alkohol, den er getrunken hatte, und genau deshalb wählte er von den drei zuständigen Abfertigungspulten jenes aus, hinter dem die hübscheste Stewardess saß. Während der ganzen Zeit, als sie ihm die Bordkarte ausstellte, lächelte er sie an und flirtete sogar ein wenig mit ihr - aber seinen neuen Koffer, der auf dem Laufband in Richtung Bauch seines Flugzeuges verschwand, beobachtete er dabei mit dem ergriffenen Blick von Eltern, die ihr einziges Kind zur Abfahrt in ein Sommerlager begleiten.

5. Zuzana kam sich in der Küche verlassen vor. Es befiel sie eine eigenartige Bangigkeit. Die Szene in der Früh tat ihr leid. Schon in dem Moment, als Oskar sauer wegging, machte sie sich Vorwürfe, wie sie sich benommen hatte. Nicht einmal ade hatte sie ihm gesagt - sie lief rasch zum Fenster im Schlafzimmer, um ihm wenigstens zuzuwinken, aber er hatte sich nicht mehr umgeblickt. Er sah nur zu, wie der Taxifahrer seinen Koffer einlud, und stieg dann gleich ein. Das neue Sakko stand ihm gut. Sie beschloß, die ganze Wohnung ordentlich zu putzen und Oskar übermorgen einen netten Empfang zu bereiten. Sie würde eine Flasche Wein kaufen und etwas Gutes kochen, sagte sie sich, aber diese seltsame Bangigkeit wollte nicht vergehen. Sie rief nach dem Sohn, der in seinem Zimmer spielte.

"An welchem Fluß und in welchem Land liegt Hamburg?" fragte sie ihn fröhlich, als er zu ihr in die Küche kam. Es war ein hübscher elfjähriger Junge mit dunkelbraunen Augen. "Rasch! Wer die richtige Antwort weiß, kriegt Kartoffelpuffer zum Mittagessen."

Kartoffelpuffer waren sein Lieblingsessen.

"In Deutschland," sagte der Sohn. "Aber den Fluß weiß ich nicht."

"An der Elbe doch. Und du kriegst nichts zum Abendessen," neckte sie ihn.

Sie begann, ihn unter der Achsel zu kitzeln, und er wehrte sich, obwohl er nicht kitzlig war.

"Mami!"

Er schob sie weg, runzelte zum Schein die Stirn, aber durch seinen finsteren Ausdruck blitzte dabei praktisch die ganze Zeit ein flüchtiges Lächeln durch.

"Reibst du mir die Kartoffeln?"

Er machte ein verdrossenes Gesicht, nahm aber das Zusammensetzen der Küchenmaschine mit sichtbarem Elan in Angriff. Mit einem Lächeln beobachtete sie, wie geschickt er die Reibe auf die Aufsatzschraube setzte, fühlte dann aber, daß ihre Augen feucht wurden. Sie trat von hinten an den Sohn heran, umarmte ihn und drückte ihn so stark an sich, daß er laut aufjaulte - was beide zum Glück zum Lachen brachte.