Die Nase

"Geschichten über Ehe und Sex", Teil VI

In "Geschichten über Sex und Ehe" befasst sich der tschechische Bestsellerautor Michal Viewegh mit viel Humor mit den, wie er meint, zwei wichtigsten Themen der Menschheit: dem Sex und der Ehe. Die 21 Erzählungen, die durch den Protagonisten Oskar miteinander verbunden sind, zeichnen den häufigen Verlauf von Liebes- und Lebensbeziehungen nach und fügen sich in ihrer Gesamtheit zu einem Roman mit starken autobiografischen Zügen.

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erscheinenden Buchs "Geschichten von Ehe und Sex".

Kapitel VI: Die Nase

Als Oskar eines frühen Samstag morgens im Juni sich im Bett umdrehte und mit vom Schlaf verschwollenen Augen einen kurzen Blick auf seine noch schlafende Frau warf, schoß ihm für einen Moment durch den Kopf, daß ihr Gesicht eher häßlich war, obwohl er es immer für recht hübsch gehalten hatte. Mein Gott, diese Nase! Wie kam es, daß ihm nie aufgefallen war, welch große und spitze Nase seine Frau hatte?! Er schloß lieber wieder die Augen, vergrub sein Gesicht im Polster und versuchte, noch für eine Weile einzunicken, aber das, was er soeben erblickt hatte, ging ihm immer noch durch den Kopf. Er versuchte, dieses nahezu grausame Bild nur für eine weitere jener üblichen Unannehmlichkeiten des Morgens zu halten wie verlegte Haare, Mundgeruch oder Sand in den Augen, kurz und gut, Dinge, die einen zwar gelegentlich irritieren, die aber nach zehn Minuten im Badezimmer mehr oder weniger zuverlässig verschwinden - zugleich fühlte er, daß er sich selbst belog. Er ahnte bereits, daß es sich hier um etwas Gravierenderes handelte.

Er stützte sich leicht auf den Ellbogen und warf noch einen Blick auf Zuzanas Nase, diesmal aufmerksamer. Das, was er erblickte, machte ihn definitiv wach: Die Nase war unglaublich groß und spitz, mit riesigen dunklen Nasenlöchern, sie dominierte auf unschöne Weise das ganze Gesicht. Oskar war entsetzt. Er konnte wohl kaum davon ausgehen, daß ihr diese schreckliche Knolle über Nacht gewachsen war - wie kam es also, daß sie ihm nicht früher aufgefallen war? War er denn völlig blind gewesen?

Er konnte es einfach nicht begreifen. Das verdarb ihm seine Laune vollkommen. Er lag da, ohne sich zu rühren, beobachtete abwechselnd die Decke und die Nase seiner Frau und hatte panische Angst vor dem Moment, in dem dieses großnasige Wesen neben ihm aufwachen würde. Er fühlte Widerwillen, Abneigung, aber auch Liebe und Wehmut. Er hatte seine Frau aufrichtig gerne - und jetzt das!

Als Zuzana ins Bad ging und Oskar das Rauschen der Dusche hörte, lief er ins Wohnzimmer, holte die Fotoalben hervor und begann, sie rasch durchzublättern.

Sie war da.

Von Anfang an. Auf jedem Foto. Groß und spitz. Unübersehbar für jeden, außer für Oskar. Das Lächeln von so manchem Hochzeitsgast war unverhohlen boshaft. Zu Oskars morgendlichen Gefühlen gesellte sich noch ein anderes: Nun fühlte er sich auch noch hintergangen.

Beim Frühstück zwang er sich vor dem Sohn zu den üblichen Witzeleien, aber Zuzanas Nase zog weiterhin seinen Blick an. Er konnte sich nicht helfen.

„Was ist? Was schaust du so?" fragte ihn schließlich seine Frau argwöhnisch.
„Ich schaue, wie deine beiden Augen angesichts der Freuden des Familienlebens zufrieden zu glänzen beginnen", stieß er möglichst überzeugend hervor.

Seine Frau lächelte, aber in ihren Augen blieb eine unausgesprochene Frage zurück.

Es fiel ihm ein, wie tapfer sie sein mußte: das ganze Leben eine solche Scheußlichkeit im Gesicht mit sich herumtragen zu müssen (auf dem sichtbarsten Platz!) und dabei nicht aufzuhören zu lächeln. Er stellte sich vor, was sie in der Schule von den Mitschülern wohl alles erdulden hatte müssen, und Rührung bemächtigte sich seiner. Er verspürte das Bedürfnis, sie vor der Welt in Schutz zu nehmen. Er überwand sich und gab ihr einen Kuß.

Der Sohn kicherte kurz.

Was lachst du, sagte Oskars gestrenger, gereizter Blick. Du hast doch keine Ahnung vom Leben! Du wirst schon noch einmal draufkommen, daß es auf die Schönheit nicht so sehr ankommt.

„Habe ich etwas angestellt?" fragte der Sohn gekränkt und verdrehte den Kopf.


Ursprünglich wollten sie diesen Samstag zu einer Computermesse fahren, denn das war die Leidenschaft ihres Sohnes (und Oskar hatte auch schon den Kauf eines neuen Computers ins Auge gefaßt); aber die Vorstellung, wie er sich mit seiner Frau und diesem Gesichtserker den Weg durch all die Leute bahnen würde, war zu viel für ihn.

„Habt ihr überhaupt Lust hinzufahren? Zu den wahnsinnigen Menschenmengen?" fragte er gegen Ende des Frühstücks.

Der Sohn blickte verdrossen zur Mutter.

„Das heißt, wir fahren nicht?" Er machte ein langes Gesicht.
„Ob wir Lust haben? Du hast es doch vorgeschlagen, erinnerst du dich nicht?" wandte Zuzana völlig zu Recht ein.

Er zuckte mit den Schultern und flüchtete aufs Klo.

Er saß auf der Muschel und versuchte krampfhaft, sich an all jene schönen Erlebnisse der neun Jahre zu erinnern, die er mit Zuzana zusammen war. Das Verbindende der Vergangenheit konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben ... Er beschloß, daß sie doch fahren würden. Er legte sich eine Taktik zurecht, wie er all den spöttischen Blicken, die er befürchtete, standhalten können würde: Er durfte sich nicht in die Defensive, in die Opferrolle drängen lassen. Er durfte kein kleinmütiges Gesicht machen. Er mußte sich im Gegenteil fröhlich geben, zufrieden, sogar selbstbewußt - und so die Blicke dieser Menschen in Zweifel ziehen. Ihre ästhetische Rangliste. Sie selbst würden sich die Frage stellen müssen, warum er, Oskar, sich freiwillig an eine solche Frau binde ...

Während der Fahrt konnte Oskar leicht vorgeben, sich auf den relativ dichten Samstagsverkehr zu konzentrieren, und auf Zuzanas Anmerkungen und Fragen antwortete er zwar liebenswürdig, aber mit auf die Straße geheftetem Blick, trotzdem stellte jede Kreuzung mit einer Ampel, an der er anhalten mußte, für seine plötzlich so zerbrechliche Liebe zu seiner Frau buchstäblich eine Belastungsprobe dar. Beim Warten auf Grün konnte er beim besten Willen nicht umhin, ihr Profil zu betrachten, und, was noch schlimmer war, gelegentlich hatte er den Eindruck, daß auch die Insassen der Fahrzeuge in der Spur nebenan die Riesennase seiner Frau mit belustigtem Interesse besichtigten.

Die letzten Reste seiner morgendlichen Vorsätze vergaß er dann bei der Tankstelle. Während er tankte, blieb Zuzana glücklicherweise im Auto sitzen, aber als er zahlen gehen wollte, stieg sie unerwartet aus und wollte mit ihm gehen.

„Willst du was kaufen?" fragte er mit einem möglichst freundlichen Gesicht nach.
„Hm", lächelte sie naschhaft.

Er wußte, was jetzt kommen würde, und sie tat es auch wirklich: Sie streckte die Zunge heraus, fuhr mit ihr leicht über die Oberlippe und biß sich dann mit ihren schönen Zähnen auf die Lippe. Diese Geste hatte Oskar immer entzückend gefunden (und am Anfang ihrer Beziehung hatte sie sogar eine außergewöhnlich erotische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt), aber heute morgen war sie ihm buchstäblich zuwider. Er mußte sich beträchtlich anstrengen, damit Zuzana seine Gefühle nicht erahnte.

„Ein Eis", tippte er, da er ihre Gelüste gut kannte.
„Hm", lächelte sie.

Die Zunge hatte sie noch immer herausgestreckt.
Oskar lächelte ebenfalls. Das kam ihm sehr tapfer vor.

„Ich bring euch eins. Du kannst dich schon wieder hineinsetzen. Was für ein Eis willst du?" rief er seinem Jungen im Auto zu.

„Ein Erdbeer-Cornetto!" rief dieser zurück.
Zuzana drückte ihre Hand an die Brust.
„Hm!" schnalzte sie angesichts der Wahl ihres Sohnes anerkennend mit der Zunge.
„Für dich also auch ein Cornetto?"
Am liebsten hätte er es ihr befohlen.
Seine Frau überlegte.
„Nein. Ich such mir selbst eines aus."
Sie hakte sich sogar bei ihm unter.

Dies jagte Oskar einen leichten Schrecken ein, aber dann rief er sich die Strategie ins Gedächtnis, die er sich an diesem Morgen auf der Toilette zurechtgelegt hatte, so daß sie wie die besten Freunde mit einem breiten Grinsen das Geschäft betraten. Seine Frau löste sich von ihm und ging schnurstracks auf die Kühltruhe zu; Oskar blieb bei dem Zeitschriftenständer stehen - nur eine nichtssagende Geste, in Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Lust auf eine Zeitschrift - und stellte sich dann in der kurzen Schlange vor der Kassa hinter einem jungen Paar in Marken-Jogginganzügen an. Oskar hatte diese eigenartige Mode zwar nie allzu sehr verstanden, war aber bereit, sie (beispielsweise im Falle seines Sohnes) zu tolerieren; heute früh war ihm angesichts all dieser farbigen Streifen und Lampassen allerdings fast zum Kotzen zumute.

Seine Frau nahm für den Sohn ein Cornetto und suchte für sich selbst ein weißes Magnum aus.

„Ich mache es gleich auf. Ich kann es nicht mehr erwarten!" trällerte sie kokett, halb zu Oskar, halb zum Verkäufer. Er war ein untersetzter, aber sympathischer Fünfziger, mit Bart in einem Baumwoll-Shirt und mit einer blauen Latzarbeitshose. Er blickte kurz zu ihr auf.

„Machen Sie nur, gnädige Frau, machen Sie nur. Das sind Dinge, die man einfach nicht aufschieben kann, nicht wahr?" lächelte er, aber Oskar fiel sehr wohl auf, wo sein Blick hängenblieb. Daß der Verkäufer bereit war, einen Flirt vorzutäuschen, schrieb er nur seiner professionellen Höflichkeit zu - oder er langweilte sich vielleicht nach dem langen Dienst so sehr, daß er sich mit jeder beliebigen Zerstreuung zufrieden gab, ruhig auch mit einer Frau mit einer solchen Knolle, dachte Oskar. Er bezahlte mit einem Lächeln auf den Lippen, aber zugleich forschte er aufmerksam im Gesicht des Verkäufers. Gleich darauf trat hinter dem Vorhang auf der Seite des Pultes ein Kollege des Verkäufers hervor, ein blonder junger Mann in der gleichen Arbeitshose, statt des Shirts trug er ein schwarzes Jeanshemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Der bärtige Verkäufer bemerkte ihn in seinen Augenwinkeln und widmete sich noch immer der Rückgabe des Wechselgeldes an Oskar - doch zu seinem ursprünglich nur biederen Gesichtsausdruck gesellte sich plötzlich eine leichte, aber dennoch wahrnehmbare ironische Grimasse.

Oskar traf das wie eine kalte Dusche. Er versuchte, seine Kräfte zu sammeln und den Blick des Verkäufers durch sein unerklärliches Selbstbewußtsein, seine geheimnisvolle Zufriedenheit ins Wanken zu bringen, aber statt dessen fühlte er, wie er gegen seinen Willen mit jeder weiteren Sekunde immer mehr dorthin gelangte, wo er gemäß seinem Plan vom Morgen auf keinen Fall landen wollte: in die Defensive. Und so steckte er die Banknoten schon als bemitleidenswerter armer Schlucker in seine Brieftasche, der es zu keiner attraktiveren Frau als dieser da gebracht hatte ... Er konnte es zwar nicht beweisen, aber er war völlig sicher, daß sich beide Verkäufer, sobald sich hinter ihm und Zuzana die automatische Schiebetür geschlossen hatte, die Beherrschung verlieren und laut losprusten würden: „Ist dir diese Knolle aufgefallen? He, Karel, wie bläst dir eigentlich ein solches Frauenzimmer einen?“

Er wollte Zeit gewinnen, und so flüchtete er auf die Toilette hinten in der Tankstelle, wo er sich lange die Hände wusch und sich im Spiegel betrachtete.
„Alles in Ordnung, Liebling?" wollte Zuzana wissen, als er ins Auto zurückkehrte.
„Ja, völlig", sagte er.

Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, daß er diesem ganzen Familienausflug entkommen könnte, indem er irgendwelche gesundheitlichen Beschwerden vortäuschte, aber schließlich verwarf er diese Idee. Das wäre wohl doch zu aufwendig. Ihm fiel etwas anderes ein.

„Ich habe nur irgendwie keine Lust auf Leute", fügte er hinzu und fuhr los.
Zuzana verstand nicht: Wann hatte er das festgestellt? An dieser Tankstelle? Warum? Der Verkäufer war doch ganz nett?

Oskar antwortete möglichst unbestimmt. Er dachte nach. Nach einem Moment drehte er sich kurz zu seinem Sohn um.

„Ich sage dir ganz offen: Ich habe wirklich keine Lust auf diese Ausstellung."
Im Spiegel bemerkte er die Enttäuschung seines Sohnes - doch auf die war er vorbereitet.

„Ich habe einen Vorschlag: Du gehst allein hin, ich gebe dir Geld für Bestandteile mit, und ich gehe mit Mutti in den Stromovka-Park spazieren, wenn es schon so schön ist - und dann kommen wir dich abholen. Einverstanden?"
Das Gesicht des Sohnes hellte sich auf.
„Einverstanden!"
Auch seine Frau sah ganz zufrieden aus.
„Aber du wolltest doch Kataloge mitnehmen ...", wandte sie ein.
„Ich werde sie für dich sammeln", versicherte der Sohn.

Im Stromovka-Park war es wirklich herrlich: Die Sonne erwärmte leicht die kalte Luft, die Bäume schillerten in allen Farben, die Eichhörnchen guckten hinter den Baumstämmen hervor - aber für Oskars Geschmack waren hier noch immer zu viele Leute. Sobald sie allerdings den Weg verließen und quer über den Rasen wanderten, ließ seine Anspannung langsam nach, und er nahm Zuzana sogar um die Hüfte. Plötzlich schämte er sich für all die vorangegangenen Manöver. Es ist doch so lächerlich, dachte er sich. Wie alt bin ich denn, daß ich mit den anderen wetteifere, wer das hübschere Mädchen hat - siebzehn? Er benahm sich wie ein unreifer Teenager. Kann denn eine gute Ehe von so etwas Unwichtigem wie der Größe der Nase der Frau beeinflußt werden?

Er nahm sich vor, das ganze Pseudoproblem zu ignorieren. Er blickte sich unauffällig um, ob nicht Leute in der Nähe waren, fing dann an zu laufen und versetzte seiner Frau einen Stoß in den Arm.
„Du mußt mich fangen!" rief er und rannte zwischen die mächtigen Stämme hinein.

Zuzana lehnte es anfangs ab, sich an so etwas Kindischem wie Fangenspielen zu beteiligen, aber Oskar trippelte so lange in unmittelbarer Nähe um sie herum, bis er sie provozierte und sie ihm plötzlich nachlief. Das Spiel hielten sie länger durch, als er erwartet hatte, aber in jenen Momenten, in denen beide keuchend stehen blieben, um vor einem neuerlichen Angriff Kräfte zu sammeln, betrachtete er sie mehrmals eingehend: Den Pullover hatte sie sich um die Hüften gebunden, so daß sie nur ein rotes T-Shirt ohne Büstenhalter darunter trug; ihre Brüste waren immer noch schön. Die Wangen waren von der Bewegung rot angelaufen, was ihre Nase - dieses Gefühl hatte Oskar zumindest - optisch doch etwas verkleinerte. Er ließ sich fangen, zog sie an sich heran und fuhr mit der rechten Hand unter ihr T-Shirt.

Am Abend liebten sie sich. Oskar knipste das Licht aus. Anfangs war alles in Ordnung, aber als Zuzana trotz seines etwas unbestimmten Protests seinen Penis in den Mund nahm, verlor er die Erektion.

Auch in der Dunkelheit fühlte er ihren Blick.
„Verzeih", murmelte er. „Irgendwie fühle ich mich nicht ganz wohl."

Der Sonntag verlief im Zeichen Zuzanas forschender Blicke, vorsichtiger Fragen und Oskars ausweichender oder bemüht witziger Antworten. Während der Woche hatte er dann in der Schule so viel Arbeit und kam so müde nach Hause, daß ihm für irgendwelche langen Untersuchungen der Nase seiner Frau glücklicherweise weder Zeit noch Kraft blieb. Er verschlang das Abendessen, schaltete die Nachrichten ein, nahm ein Bad und schlief mit einem Buch im Bett bald ein.

Aber am Samstag beim Frühstück war die Nase seiner Frau wieder da, bedrohlich groß, ekelhaft spitz und noch dazu voll Energie - die Nase wollte in der Stadt spazieren gehen, sich eine Fotoausstellung ansehen, zum Abendessen mit Karel und Helena gehen und dann sogar noch ins Kino! Oskar hatte den Eindruck, daß er das nicht schaffen würde. Selbstverständlich wollte er auch weiterhin rücksichtsvoll gegenüber seiner Frau sein, aber dazu brauchte er Kraft, um etwas vorzugeben - und gerade die fehlte ihm jetzt. Er war dagegen machtlos. Er widmete ihrer Nase sogar schon einen ganz unverhohlenen Blick.

„Was ist?" fragte Zuzana sofort. „Was schaust du mich so an?"
„Nichts."
Er hatte keine Kraft, Ausreden zu finden, Spuren zu verwischen, Späße zu machen; aber er hatte auch nicht den Mut, ihr alles rundheraus zu sagen. Geht denn das überhaupt? Man kann seiner Frau beim Frühstück vielleicht sagen, sie solle doch ein anderes Kleid anziehen - und da riskiert man schon genug -, aber man kann sie doch nicht bitten, sich die Nase chirurgisch verkleinern zu lassen.

„Um Gottes willen, warum schon wieder mit Helena?" fragte er stattdessen verdrossen.

Zuzana schüttelte den Kopf.
„Haben wir schlecht geschlafen?"
Er bemühte sich nicht einmal zu antworten.
Der Sohn stand auf und ging wortlos in sein Zimmer.

Seine Frau versuchte es nach kurzem Zögern im Guten; schließlich hatten sie den ganzen Samstag vor sich und konnten sich nicht gleich am Morgen einen Streit erlauben. Sie streckte sich über den Tisch aus und nahm ihn an der Hand.

Stich mir vor allem kein Auge aus, dachte Oskar.

„Mir ist nie aufgefallen, daß du gerade Helena nicht magst. Hast du nicht selbst gesagt, daß sie eine - ich zitierte - ausgesprochen hübsche Frau ist?"
Matt ergriff Oskar die Gelegenheit.
„Sie ist eine hübsche Frau, aber jemand sollte ihr sagen, daß sie endlich was mit ihrem ekelhaften Doppelkinn unternehmen soll.“
Für einen Moment erschrak er: Hatte er nicht übertrieben?! Oh Gott, das war so durchschaubar!
„Doppelkinn?!" rief Zuzana amüsiert.

Oskar wurde bewußt, daß sie überhaupt nicht verstanden hatte. Wie konnte sie so blind sein? Sah sie sich selbst nicht an? Sah sie sich nicht jeden Morgen im Spiegel?

„Doppelkinn", sagte er kühl. „Ist dir nie aufgefallen, daß sie etwa ein Dreifachkinn hat?"
Seine Frau betrachtete ihn staunend.
„Also, vor dem Abendessen. Nachher hat sie immer ein Vierfachkinn. Ich behaupte nur, daß dieses Doppelkinn aus ihr eine ganz andere Person macht. Sie sieht aus wie die Leiterin einer Schulküche. Wie eine Zuckerbäckerin in einer Provinzstadt ... Ich finde einfach, daß das schade ist - eben weil sie ansonsten wirklich hübsch ist. Ich verstehe einfach nicht, daß sie das nicht selbst sieht - oder daß ihr das niemand sagt."

Zuzana lachte seltsamerweise; Oskar konnte nicht erkennen, ob es sich um ein spontanes oder erzwungenes Lachen handelte.
„Du hast also keine Lust auf ein Abendessen mit Helena wegen ihres Drei- beziehungsweise Vierfachkinns!"

Oskar wollte das nicht zu einem Scherz verkommen lassen, und eine Zeitlang frühstückten sie schweigend weiter.
„Außerdem", sagte er schließlich, „wenn wir schon darüber sprechen: Gibt es in meinem Verhalten oder an meinem Äußeren etwas, das ich ändern sollte?"

Er sagte das ohne ein einziges Zögern, aber er wußte nur zu gut, daß er mit jedem Wort noch tiefer in jene frostigen Regionen vordrang, aus denen es möglicherweise kein Zurück mehr gab. Trotzdem wollte er sich zu einer klaren Aussage durchringen.

„Ich meine etwas, was einem sofort ins Auge sticht, wobei du aber Angst hast, es mir zu sagen, um mich gewissermaßen nicht zu kränken?"

Zuzana ließ sich nichts anmerken, aber etwas in ihrem Gesicht ließ Oskar erahnen, daß sie sein Spiel definitiv durchschaut hatte.

Plötzlich, ohne Vorwarnung hob sie den Kopf und blickte ihm in die Augen. Sie lächelte nicht mehr.

„Dich stört etwas an mir, nicht wahr? Meine Nase, oder?"
Oskar schluckte und wich feig ihrem Blick aus.
„Ja oder nein?"
Er brachte kein Wort heraus.
„Ich weiß, daß es so ist."

In den Ecken ihres hübschen Mundes machte sich das bekannte Zucken bemerkbar - das aus ihr ein kleines blondes Mädchen machte, das auf dem Asphaltspielplatz hingefallen war, sich das Knie wundgeschlagen hatte und nun drauf und dran war loszuheulen.

Oskar empfand das Bedürfnis, seiner Frau zu Füßen zu fallen und sie unter Weinen um Vergebung zu bitten - aber es war sie, die zu weinen begann.

„Glaubst du, daß mir das nicht aufgefallen ist? Deine unablässigen Blicke? Glaubst du, ich bin blind?" schluchzte sie, während ihr die ersten Tränen über die Wangen kullerten.

Oskar schnürte es vor Betroffenheit den Hals zu. Er wollte sie an der Hand nehmen, sie riß sich aber von ihm los lief ins Badezimmer und sperrte sich ein.

Nach fünf Minuten, die Oskar mit qualvollen Selbstbeschuldigungen verbrachte, kam sie heraus; die Nase war in der Zwischenzeit rot angelaufen und sah aus, als wäre sie angeschwollen.

Herrgott, erschrak Oskar in Gedanken. Ich lebe mit einem Monster! Mit einer Jahrmarktattraktion!

„Glaubst du, du bist perfekt?" schrie sie ihn an. „Glaubst du, deine immer größer werdende Glatze macht mir nichts aus? Glaubst du, deine schiefen Zähne und die ekelhaften schwarzen Plomben in den Stockzähnen stören mich nicht? Oder dein schwabbeliger Bauch gefällt mir? Glaubst du, deine lächerlich kleinen Hände stören mich nicht? Sie stören mich - aber ich habe dir das nie gesagt! Nie!"

„Schrei nicht", versuchte Oskar, sie zu besänftigen.
Diese unerwartet lange Liste seiner angeblichen Unzulänglichkeiten berührte ihn unangenehm.
Er versuchte, sie zurück ins Bad zu drängen.
„Verzieh dich!" plärrte er den Sohn an, der aus seinem Zimmer kommen wollte.
„Und weißt du, warum? Weil ich nicht so ein Schwein bin! Weil ich dich gern habe!"

Oskar wollte schon Zuzanas Schimpftiraden als dankbaren Vorwand nützen, um sich zu Recht beleidigt zu fühlen, als er plötzlich in Sekundenschnelle begriff, was dies alles eigentlich zu bedeuten hatte: Letzten Samstag hatte er begonnen, die Liebe zu seiner Frau zu verlieren.

Er drückte sein Gesicht an ihres und küßte sie - Nase hin, Nase her, aber irgendwo tief drinnen wußte er, daß er diesen Prozeß, der in Gang gekommen war, wohl nicht mehr aufhalten würde können.