Mach doch was du willst

"Geschichten über Ehe und Sex", Teil V

In "Geschichten über Sex und Ehe" befasst sich der tschechische Bestsellerautor Michal Viewegh mit viel Humor mit den, wie er meint, zwei wichtigsten Themen der Menschheit: dem Sex und der Ehe. Die 21 Erzählungen, die durch den Protagonisten Oskar miteinander verbunden sind, zeichnen den häufigen Verlauf von Liebes- und Lebensbeziehungen nach und fügen sich in ihrer Gesamtheit zu einem Roman mit starken autobiografischen Zügen.

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erscheinenden Buchs "Geschichten von Ehe und Sex".

Kapitel V: Mach doch, was du willst!

Eines Samstag abends im Mai irgendwann Mitte der achtziger Jahre schlug Zuzana Oskar vor, daß sie wenigstens heute nicht wie üblich den ganzen Abend fernsehen müßten; sie sagte es mit seltsamem Nachdruck und noch dazu just in dem Moment, als die Fernsehansagerin Marie Tomsová den Zusehern den Überblick über die Abendsendungen gab.

"Und was willst du machen?" fragte Oskar ganz logisch - im örtlichen Kino liefen nur mittwochs und sonntags Filme, für die Weinstube hatten sie nicht genug Geld (Oskar studierte noch, so daß sie mit Zuzanas winzigem Gehalt auskommen mußten), und andere Unterhaltungsmöglichkeiten gab es in ihrem Heimatstädtchen nicht.

"Was weiß ich?" sagte Zuzana und warf mit einer vagen Geste der Unzufriedenheit die Hände auseinander. "Was, wenn wir einmal einfach nur so spazieren gingen? Draußen ist es herrlich ..."

Ihr Sohn war bei einer der Großmütter, so daß sie theoretisch an der Verwirklichung ihrer Idee nichts hinderte, aber darum ging es jetzt nicht, sagte sich Oskar. War es doch Zuzana, die sich schon seit Jahren Abend für Abend jeden Schwachsinn im Fernsehen ansah, während er in der Küche mit Watte in den Ohren las oder schrieb - und jetzt war es ausgerechnet sie, die aus ihm geradezu einen Fernsehsüchtigen machte. Die Wahrheit war allerdings, daß er an Wochenenden, an denen er tagsüber schreiben konnte, die Programmauswahl fast immer Zuzana überließ; er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann sie zuletzt am Samstag abend etwas anderes gemacht hätten.

"Gut", meinte er bedächtig, "gehen wir spazieren."
"Du würdest wirklich gehen?" sagte Zuzana überrascht, als ob sie zuvor keine allzu großen Hoffnungen gehegt hätte, daß Oskar einverstanden sein könnte.

Ihre Freude verleitete ihn zu einem sehr überzeugten Tonfall.
"Klar doch. Warum nicht?" fragte er. "Aber schalt das sofort aus!" fügte er nachdrücklich hinzu.

Zuzana zögerte ganz kurz, doch dann drückte sie wirklich den Knopf (eine Fernbedienung hatten sie damals noch nicht). Oskar hatte seine Frau natürlich schon oft den Fernseher ausschalten gesehen, aber diesmal kam ihm diese vertraute Bewegung etwas anders vor - irgendwie weniger automatisch, bewußter; ja, geradezu ostentativ bedachtsam.
"Und fertig!" sagte Zuzana.

Beim Anblick der plötzlich dunklen Bildfläche zweifelten beide im Geiste für ein paar Sekunden, wenn auch jeder aus einem andere Grunde - Zuzana dachte daran, daß es sich um das Samstags- und somit um ein relativ attraktives Programm handelte, in dem unter anderem auch ein weiterer Teil der italienischen Krimiserie Allein gegen die Mafia lief, die sie und Oskar sich bis jetzt jedes Mal angesehen hatten, während Oskar eher darüber nachdachte, welche Haltung er zu jenen mehreren völlig freien Stunden einnehmen sollte, die sich nun ganz unerwartet vor ihnen auftaten; er war nicht ganz sicher, ob er sich davon positiv oder eher unangenehm überrascht fühlte.

"Oder willst du doch schauen?" fragte Zuzana. "Mir ist es egal."

Oskar war klar, daß dies offenbar der letzte Moment war, in dem noch ein Rückzieher möglich war, um wie schon so oft mit einem schuldbewußten Lächeln gemeinsam in der Umarmung der machtlosen Resignation zu verweilen - aber diesmal war er entschlossener denn je.

"Nein", sagte er mit Nachdruck, wobei er die eigenen Zweifel zerstreute. "Es hat geheißen, wir gehen hinaus, nicht wahr?"

Mit gespieltem, geradezu jungenhaftem Elan strampelte er seine Freizeithose auf den Teppich (er wußte nur zu gut, daß ihm dies unter den gegebenen Umständen verziehen werden würde) und ging ins Schlafzimmer, von wo er nach ein paar Minuten in sauberen Jeans und in einem weißen Sommerhemd zurückkehrte.

Zuzana trat, während sie sich anzog, an das geöffnete Fenster.
"Draußen ist es wirklich herrlich", stellte sie fest.

Man konnte nicht sagen, daß sie übertrieb: Die untergehende Sonne färbte die Fassaden der gegenüberliegenden Plattenbauten orange, und der leicht laue Wind wehte die Düfte eines frühen Maiabends ins Zimmer.

"Also mach schon", trieb Oskar sie mit einem Lächeln an. "Turteltaubes Stimme zur Liebe lädt."

Sobald sie begonnen hatten, sich anzukleiden, war schon sicher, daß sie wirklich hinausgehen würden - und beide kamen deshalb in gute Stimmung, vielleicht als Belohnung für die Qual der vorangegangenen Wahl. Ein Punkt bereitete ihnen zwar noch immer Sorge, nämlich ob ihnen ein Spaziergang ohne konkretes Ziel, ein Spaziergang ins Blaue wirklich als vollwertiges Abendprogramm ausreichen würde, aber als sie dann in die warme karminrote Abenddämmerung hinaustraten, zerstreuten sich ihre uneingestandenen Zweifel rasch von selbst. All das, was an den unzähligen Abenden vor dem Fernsehschirm unausgesprochen geblieben war, drängte sich ihnen nun mit einer solchen Intensität auf die Lippen, daß sie einander pausenlos ins Wort fielen: Sie besprachen der Reihe nach Zuzanas Probleme in der Arbeit, ihre Wohnsituation (sie waren auf der Suche nach einer Wohnung in Prag) sowie die Tatsache, daß ihr Sohn bald in die Schule gehen würde. Und obwohl ihre Ansichten auch an jenem Tag in vielerlei Hinsicht unterschiedlich waren, wählten beide einen freundlichen, versöhnlichen Ton, wobei sie ständig Hand in Hand gingen. Sie schlenderten den Fluß entlang auf dem menschenleeren Kai, überquerten die Brücke und stiegen hinauf zum Schloßpark, wo sie sich auf eine Bank setzten und das Städtchen unter sich beobachteten. Am Abendhimmel zeichnete sich ein ganzer Wald von Fernsehantennen und Satellitenschüsseln ab.

"Mir ist gar nicht aufgefallen, wie viele es hier gibt", bemerkte Zuzana.
"Immer mehr", sagte Oskar.

Für einen Moment stellte er sich vor, wie die elektromagnetischen Wellen der Fernsehsignale gleich unsichtbarem Regen auf das Städtchen rieselten. Sie verbrachten mehr als eine halbe Stunde auf der Bank und machten sich dann gemächlich auf den Rückweg. Je dunkler es wurde, umso mehr Gesprächspausen gab es, doch an der Atmosphäre einer ruhigen Eintracht, die ihren nicht geplanten Spaziergang von Anfang an begleitet hatte, änderte sich dadurch nichts.

Als sie aber an den Rand der Siedlung kamen, hörten sie noch völlig überraschend die gefällige Signation der erwähnten Serie, die aus Dutzenden offenen Fenstern zu hören war; wären sie in diesem Moment ehrlich gewesen, so hätten beide zugeben müssen, daß sie sich diesen Krimi ganz gern angesehen hätten.

"Turteltaubes Stimme zur Liebe lädt", sagte Oskar trotzdem spöttisch, und Zuzana lachte kurz auf.

Die Melodie ging in einen breiten lieblichen Refrain über.
Zuzana machte eine kokette Miene.

"Schauen wir nicht vielleicht bei Pavla vorbei?" warf sie ein und machte eine Handbewegung in Richtung eines von Pavlas Fenstern, hinter dessen Vorhängen auch das Licht des Bildschirmes flimmerte.

"Nein", sagte Oskar. "Auf keinen Fall."
"Wirklich nicht?"
"Wirklich nicht."

Er sagte dies mit einer solch übertriebenen Betonung, daß er mit einem Schlag etwas lächerlich wirkte, aber Zuzana schmiegte sich dennoch zärtlich an ihn.

"Oskarchen", flüsterte sie ihm zu, "gehen wir doch zu Pavla ..."
"Nein!"
"Warum nicht?" fragte sie, vielleicht gedankenlos, automatisch, aber Oskar brachte das trotzdem sehr auf. Wie konnte sie nur so scheinheilig sein?!

"Weil wir dort wieder nur in die verdammte Glotze gaffen würden!" sagte er. "Deshalb."

Er selbst begriff nicht ganz, woher in ihm auf einmal all dieser Zorn kam. Zuzana lächelte im Unterschied zu ihm immer so neckisch.
"Oskarchen ..."

Ihre Umarmung wurde für Oskar plötzlich unerträglich, und er riß sich etwas grob von ihr los. Er trat einen Schritt zurück und machte einen tiefen Atemzug.

Zuzana schüttelte ablehnend den Kopf.
"Hör zu", sagte er ihr mit erzwungener Ruhe. "Ich gehe zu niemanden fernsehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?"

Die Stimmung spitzte sich zu, aber er konnte sich nicht helfen. Aus einem Grunde, den er nicht genauer benennen konnte, erschien es ihm sehr wichtig, diesen Spaziergang zu Ende zu führen.

"Du bist manchmal so ekelhaft!" rief Zuzana und schüttelte noch einmal den Kopf.

Oskar glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.
"Ich bin ekelhaft?" explodierte er. "Ich?!"

Zuzanas strahlender Blick erlosch und wurde hart. Ihre Mundwinkel verkrampften sich zu einer Grimasse, die Oskar seit jeher gehaßt hatte.

"Warum mußt du immer alles kaputtmachen?" fragte sie traurig. "Du machst immer alles kaputt."

Oskar vernahm ein Sausen im Kopf und in den Ohren. Auf der Brust verspürte er den bekannten Druck. Hätte er sich nicht geschämt, hätte er in die ganze Siedlung hineingebrüllt.
"Ich mache alles kaputt?! Ich glaub, ich träume! Ich mache alles kaputt?" fauchte er wütend.

Zuzana beobachtete ihn verächtlich.
"Weißt du was? Mach doch, was du willst", sagte sie schließlich. "Ich gehe zu Pavla. Mach, was du willst."

Schließlich schüttelte sie verständnislos den Kopf und ließ ihn beleidigt stehen.
"Das mach ich auch!" schrie ihr Oskar wie von Sinnen hinterher. "Keine Angst. Genau das mache ich auch!"