"Geschichten über Ehe und Sex", Teil II

"Laut der Weltgesundheitsorganisation denkt eine Frau im Durchschnitt dreißig Mal am Tag an Sex; ein Mann, ohne Rücksicht auf das Alter, durchschnittlich alle acht Minuten." Ein Ausschnitt aus Michal Vieweghs "Geschichten von Ehe und Sex".

In "Geschichten über Sex und Ehe" befasst sich der tschechische Bestsellerautor Michal Viewegh mit viel Humor mit den, wie er meint, zwei wichtigsten Themen der Menschheit: dem Sex und der Ehe. Die 21 Erzählungen, die durch den Protagonisten Oskar miteinander verbunden sind, zeichnen den häufigen Verlauf von Liebes- und Lebensbeziehungen nach und fügen sich in ihrer Gesamtheit zu einem Roman mit starken autobiografischen Zügen.

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erscheinenden Buchs "Geschichten von Ehe und Sex".

Kapitel 1: Wenigstens eine Medaille

Es wurde dunkel. Als Oskar das Haus verließ, stand sie schon an der Haltestelle. Auch heute hatte sie ihre Skier nicht dabei; die Hände versteckte sie in den Taschen ihres hellen Pelzes. In ihren cremefarbenen Winterstiefeln stieg sie von einem Fuß auf den anderen. Er verspürte etwas wie selbstgefällige Überlegenheit, aber als er sich näherte, kam er sich gegen seinen Willen schmutzig vor; er wußte, daß er auf seiner Keilhose einige Flecken hatte und daß durch das fadenscheinige Gewebe seiner alten Sportjacke gleich an mehreren Stellen weiße Büschel Watteline hervorkamen. Trotzig stieg er über die Barriere des bräunlichen Schnees am Rand des Gehsteigs und ging über die Straße zu ihr hinüber.

Zuzana und er wohnten in der gleichen Straße, sie gingen ins selbe Gymnasium (im Frühling würden beide das Abitur ablegen), und noch bis vor kurzem waren sie auch im selben Skiverein. Seit ihrer Kindheit trafen sie sich während des ganzen Winters an dieser Haltestelle und fuhren mit dem Autobus hinaus aus der Stadt zum Training. Jahrelang hatte er sich möglichst weit von ihr weg gesetzt, da er nicht mit ansehen konnte, wie ihr der Vereinsoverall über die mageren Hüften hing und wie aus dem massiven Skelett der Skischuhe ihre spindeldürre Beine hervorragten; es war ihm unangenehm, in Begleitung eines solchen Mädchens vor den Augen der anderen Jungs aus dem Autobus steigen zu müssen.
Irgendwann vor drei Jahren hatte sich das plötzlich geändert. Eines Tages legte sie vor ihm ihre Windjacke ab - und von da an war er ihr mit finsterer Miene bei den Skiern behilflich. Später einmal kam er bei einem Training zum Schein mitleidig ihrer Bitte nach und erklärte ihr die Technik des Bogens mit Stockeinsatz; dies gab ihrer Beziehung eine ausreichende Gesprächsbasis, so daß sie einander rasch näher kamen, ohne dies eigentlich zu bemerken. Innerhalb einer Woche wurden sie zu guten Freunden. Sie vertrauten einander ihre Sportpläne an, bei den Wettkämpfen beobachteten sie (mit gespannter Aufmerksamkeit) die Fahrten des anderen, und bei den Feiern der gelegentlichen kleinen Erfolge prosteten sie einander im Buffet unter dem Schlepplift mit Cola Zitrone zu. Zweimal küßten sie sich sogar schüchtern.

„Hallo", grüßte er sie schroff.
„Hallo", erwiderte sie vorsichtig.
Er schwieg, weil er glaubte, sein Schweigen sei aussagekräftig genug. Sie sollte zu sprechen beginnen - oder wenigstens eine Erklärung abgeben. Er warf die Skier von der Schulter, mit einer geübten Bewegung stützte er sich auf die Stöcke und begann, mit der Bindung herumzuspielen. Jeder Bestandteil der Skiausrüstung überführt sie, dachte er, überführt sie des Verrats. Seine Skier, seine Stöcke, sein Rucksack, sein Skianzug - alle diese Dinge waren ihr vertraut; fühlte sie den stummen Vorwurf, der in ihnen enthalten war? Als er kurz zu ihr aufsah, zweifelte er daran.
„Zieh diese Fetzen aus und fahr mir nach", sagte er möglichst barsch, aber noch während er den Satz aussprach, hörte er den falschen, verächtlichen Ton. In diesem hellen Pelz sah sie nämlich nicht nur sehr gut aus, sondern auch ganz natürlich, so natürlich sogar, daß es den Anschein hatte, als sei gerade das ihre wahre, wirkliche Gestalt und alle früheren Skijacken und Skianzüge gewissermaßen nur vorübergehende Verkleidungen für ein Kinderspiel namens Abfahrtslauf ... Ihr zwar liebenswertes, zugleich aber nachsichtiges Lächeln bestätigte Oskars Zweifel nur, und zugleich provozierte es ihn zum letzten verzweifelten Versuch, die Oberhand zu gewinnen: Mit einem erzwungenen Lächeln und viel zu energisch zog er den Kragen ihres Pelzes weg, entschlossen, mit einem einzigen spöttischen Lächeln ihre aufgetakelte Kleidung bloßzustellen - er enthüllte aber Zuzanas Kleid, an dessen Ausschnitt die weiße Spitze ihres Büstenhalters aufleuchtete. Oskars Zögern zeigte seine Unsicherheit, und die beabsichtigte anmaßende Geste hatte ihre Wirkung verloren; er konnte den Pelz einfach nicht mehr loslassen. Auf dem Handrücken spürte er ihre warme Haut.
„Mir ist kalt."
Ihm fiel der kokette Ton auf. Er zog seine Hand zurück, und sie zog sich den Kragen genau bis zum Hals; die laue Wärme ihres Körpers, die dadurch aufstieg, hatte einen angenehmen Geruch.
„Zieh diese Fetzen aus und fahr mir nach", sagte sie mit einem Lächeln.

Im vergangenen Jahr hatte Zuzanas Beziehung zum Skifahren beträchtliche Veränderungen durchgemacht. Das konnte nicht unbemerkt bleiben. Gespräche über den Trainingsplan langweilten sie; umgekehrt schien sie offensichtlich aufzuleben, wann auch immer die Rede von den Liebesaffären des Trainers war. Zum Training kam sie oft zu spät und verschwand gleich danach wieder. Sie weigerte sich, eine Strickmütze zu tragen, so daß sie auch bei Frost ohne Kopfbedeckung fuhr; ihr Cola trank sie manchmal mit Rum.
Oskar maß dem anfangs keine besondere Bedeutung bei; soweit er wußte, machten die meisten Mädchen im Verein dieses Stadium durch. Er ahnte aber nicht, daß sie eines Tages ohne Skier zur Haltestelle kommen würde.

Der Autobus war halbleer. Die paar Fahrgäste, die drinnen saßen, waren ebenso wie Zuzana auf dem Weg in die neue Weinstube unter den Schleppliften, und Oskar warfen sie Blicke voll jenem blasierten Verständnis zu, mit dem Krawattenträger in der Regel einen verschwitzten Abend-Jogger betrachten. Es brachte ihn auf, daß die Abfahrtshänge in ihren Augen offenbar nur irgendein unbedeutendes Anhängsel der Weinstube darstellten.
Sie saßen nebeneinander wie schon so oft zuvor, und trotzdem war es diesmal anders. Er klemmte die Skier mit den Knien zusammen. Als sie vorletztes Jahr die Skier zugeteilt bekommen hatten, funkelnagelneu, hatte er sie vor lauter Begeisterung über Nacht mit in sein Zimmer genommen; er hatte sie neben sein Bett gelegt und in der Dunkelheit ihre glatten Laufflächen und geschliffenen Kanten berührt. Zuzana hatte dasselbe getan.
Sie begann, ihn nach der bevorstehenden Landesmeisterschaft auszufragen; sie hatte vom Trainer angeblich gehört, daß Oskar eine reale Chance auf eine Medaille hätte.
„Wir werden sehen", sagte Oskar zurückhaltend, aber innerlich freute er sich über ihr Interesse.
Sie redete weiter, und obwohl sie wie eine Kennerin sprach, obwohl sie die richtigen Fachausdrücke verwendete, klang es für Oskar fremd - als hätte sie die Wörter gestohlen. Er hatte den Eindruck, als würde er nur einer gut informierten Redakteurin der Bezirkszeitung antworten. In der Mitte des nächsten Satzes verstummte er gereizt, und für den Rest der Fahrt sprachen sie überhaupt nicht mehr miteinander.
Sie stiegen aus, und der Schnee knirschte unter ihren Füßen; es gab hier eine Spur mehr Schnee als unten in der Stadt. Die Dunkelheit hatte sich schon über den ganzen Horizont ausgebreitet; durch die dunklen Flächen des Waldes schienen die Scheinwerfer der Abfahrtsstrecke schwach durch. Die Weinstube erstrahlte in ihrer violetten Neonbeleuchtung.
„Ich gehe allein hinein", sagte sie, als sie vor dem Eingang standen.
Von drinnen drang Musik heraus. Im Durchblick zwischen den Gebäuden war gelber, stellenweise fast orangefarbener Schnee und der Schlepplift mit seinen schwebenden Bügeln zu erkennen; der Vereinsnachwuchs beendete gerade das Training.
„Ich gehe mit."
Zwei Paare, die ihm schon im Autobus aufgefallen waren, gingen vorbei; einer der Männer öffnete die Tür, und die Musik wurde für einen Augenblick lauter.
Lächelnd zuckte sie mit den Schultern und hob die Augenbrauen.
„Also dann tschüss?"
Es war ihm ein Rätsel, wo sie diese Überlegenheit hernahm.
„Tschüss", sagte er kühl.
Er verlagerte die Skier von der einen auf die andere Schulter, obwohl er ihr Gewicht fast nicht spürte, und steuerte auf dem Betonweg auf den Schlepplift zu. Er drehte sich nicht mehr um, aber als er unter den Fenstern des Vestibüls der Weinstube vorbeiging, erblickte er Zuzana noch einmal: Sie stand vor dem Spiegel, schon ohne Pelz; die nackten Arme hatte sie gerade zu den Haaren im Nacken erhoben. Die geschminkten Lippen, mit denen sie die Haarspange hielt, hatte sie fest zusammengekniffen, aber trotzdem umspielte ihren Mund ein leichtes Lächeln.
Oskar führte in der Regel während seiner ersten Fahrt mit dem Schlepplift verschiedene Dehnübungen aus, jetzt aber ließ er sich nur schlaff vom Bügel hinaufziehen; die über das Handgelenk geschlauften Stöcke zog er wie unnützen Ballast hinter sich her. Das Stahlseil näherte sich dem nächsten Masten. Die Skier glitten leise über die ausgefahrene Spur, auf die die Fichtenäste, welche die beleuchtete Abfahrtsstrecke begrenzten, verzerrte bizarre Schatten warfen. Die Meisterschaft stand bevor, und er wollte eine Medaille. Noch nie hatte er eine große Medaille gewonnen: Er hatte zwar in ein paar Regionalwettkämpfen gesiegt, so daß er einige solcher federleichter Aluminiummedaillen besaß (und natürlich auch ein paar Diplome und auch zwei häßliche geschliffene Vasen), aber eine richtige, schwere Medaille, wie man sie bei der Landesmeisterschaft bekam, hatte er noch nie errungen. Er drückte die Faust zusammen, als ob er dieses harte, schwere Metall schon in der Hand hielte.
Oben blies ein kalter Wind. Der Trainer gab Oskar die Anweisungen für das heutige Training, sah sich seine ersten drei Abfahrten an, lobte ihn und verließ ihn danach vorzeitig, da er zu einem Ball mußte. Die letzten Skischüler beendeten auch schon das Training, so daß Oskar fast allein auf dem Abfahrtshang zurückblieb - nur mit zwei Kollegen vom Verein und einigen Erholung suchenden Skifahrern. Er hatte keine Ahnung, warum er sich hier am Freitag abend mit den hölzernen Stöcken abrackerte, wo doch die meisten Leute irgendwo tanzten und tranken ... Er legte gute Fahrten hin, aber er fühlte nur den Schatten der üblichen Freude - ja, nur eine seltsame Verbissenheit, aber er war nicht sicher, ob ihm das als Motivation für jene vom Trainer vorgeschriebenen dreißig Fahrten reichen würde.

Als er zum fünften Mal herunterkam, wartete sie beim Schlepplift auf ihn. Früher pflegten sie nach fünf Fahrten zusammen einen Tee zu trinken - und auch jetzt umklammerte sie mit Daumen und Zeigefinger ein rauchendes Glas.
„Trink", bot sie ihm lächelnd das Getränk an.
Er roch daran und schüttelte ablehnend den Kopf: Es war Grog. Das kam ihm kindisch vor. Wollte sie ihn vielleicht betrunken machen? Der Grog war nicht mehr heiß, so daß er ihn auf einen Zug austrinken hätte können. Schweigend gab er ihr das Glas zurück, stieß sich elegant vom Geländer ab, und mit einem einzigen Schwung zog er den nächsten Schleppbügel heran; er genoß das perfekte Zusammenspiel seiner Bewegungen. Diesmal trainierte er während der Fahrt nach oben, und gleich, nachdem er angekommen war, stürzte er sich mit Verve in die roten und blauen Tore. „Medaille Medaille Medaille Medaille Medaille“, skandierte er laut im Rhythmus der einzelnen Schwünge.
Nach seiner zehnten Fahrt stand Zuzana wieder mit einem Glas in der Hand unten. Zuerst wollte er es ablehnen, aber dann beschloß er, auf ihr Spiel einzugehen: Ohne ein einziges Wort trank er den Grog aus, faßte sich einen Bügel und ließ sich hinaufschleppen. In seinem Inneren spürte er eine angenehme Wärme. Was beabsichtigte sie damit? Wollte sie ihn vielleicht auf so primitive Weise in ihrem sportlichen Fall mit sich in die Tiefe reißen? War sie eifersüchtig auf seinen potentiellen Erfolg bei der Landesmeisterschaft? Oder war es nur ein Spiel, Ausdruck ihres Sportsgeistes, eine Art Tauziehen zwischen Weinstube und Abfahrtsstrecke? Es kam ihm der Gedanke, daß sie auch bloß ihre Wirkung auf ihn testen könnte. Der Zug des Bügels ließ plötzlich nach; er war oben und hatte keine Zeit mehr für ähnlich unsinnige Überlegungen.

Nach der zwanzigsten Fahrt und dem vierten Grog stieg sie auf seine Skischuhe und gab ihm einen langen Kuß. Oskar erwiderte ihn und warf dann die Handschuhe und Stöcke in den Schnee, und mit einer Geschicklichkeit, die ihn selbst überraschte, glitt er mit seiner Hand in das Körbchen ihres Büstenhalters; fast gleichzeitig erschrak er über seinen Mut, aber als er zu ihr aufsah, stellte er mit Erleichterung fest, daß sich ihr Blick nicht verändert hatte. In diesem Moment hielt er den Abfahrtslauf schon für eine höchst absurde Sportdisziplin - er konnte beispielsweise nicht mehr begreifen, warum er jetzt jene eigenartige Metallstange ergreifen sollte und sich zum einundzwanzigsten Male bis auf den Gipfel dieses ganz und gar uninteressanten, durch und durch vereisten Hügels schleppen lassen sollte.
Bereitwillig folgte er Zuzana in die Weinstube und mußte zugeben, daß das Publikum dort sehr anregend war; die anwesenden Mädchen kommentierten anerkennend seine Bergbräune, und als er später (in Socken) mit ihnen tanzte, drückten sie ihm bewundernd seine muskulösen Arme.
„Liebster", sagte ihm Zuzana auf dem Nachhauseweg, „ich war stolz auf dich."

Nicht ganz ein Jahr später kam Zuzana in andere Umstände, und kurz darauf heirateten sie.
Immer wenn Oskar diese Geschichte erzählte, versuchte er, eher die komische Seite zu betonen, und meist fand dies amüsierten Anklang.
„Die Liebe hat gesiegt", lachten die Zuhörer und Oskar mit ihnen, obwohl er eine solche Interpretation für etwas vereinfachend hielt.

Eines Abends beschuldigte Oskar Zuzana im Scherz, während er auf ihrem schon recht rundlichen Bäuchlein eine billige Körpermilch auftrug, daß sie ihm vielleicht das einzige, worin er es im Leben zu etwas bringen hätte können, verpatzt hätte.
„Du meinst doch nicht das Skilaufen?" erwiderte sie neckisch, was Oskar etwas aufbrachte.
„Was denn sonst?" Er verstand nicht. „Ich war damals in Topform, alle meinten, ich sei gut gewesen ..."
Zuzanas Augen blitzten - unklar, warum - boshaft auf.
„Gut?" sagte sie. “Dann zeig mir doch wenigstens eine richtige Medaille ..."