von Jean-Claude Kuner

Karma aus Blech

Das Unternehmen der Dabbawallahs von Mumbai funktioniert seit 1890 fehlerlos. Ein Hörstück, das eine ganz besondere Art der Essenszustellung zeigt - und gleichzeitig Indien: chaotisch, farbenprächtig, quirlig, voll von Gerüchen und Menschen.

Die Essensausträger von Mumbai

Jeden Morgen sammeln in Mumbai 5.000 Essensausträger, die Dabbawallahs, von den Hausfrauen der Stadt über 200.000 Mittagessen im Blechgeschirr ein, um sie vier Stunden später quer durchs aberwitzige Verkehrsgewühl der 20-Millionen-Metropole in die Büros und an die Arbeitsplätze ihrer Männer zu liefern. Gesundes Essen, zubereitet nach den Vorschriften der eigenen Glaubensrichtung und an den eigenen Arbeitsplatz geliefert. Seit 1890 bewährt sich dieses System der Essensauslieferung, das auf gut funktionierenden Teams und einem Farbmarkierungssystem basiert. Obwohl neun von zehn Dabbawallahs Analphabeten sind, geht nur einmal von 16 Millionen Fällen eine Dose verloren.

Eine Erfolgsgeschichte

"Essen auszuliefern erzeugt gutes Karma", finden die Dabbawallahs, die in einer Interessensvertretung organisiert sind. Für einen Monatsbeitrag legt die Interessenvertretung die Preise fest, gewährt Gebietsschutz und vergibt Kredite. Und sie verhängt Sanktionen: Wer zu Kunden unfreundlich ist, wer im Dienst trinkt oder raucht, wer die werbewirksame Kappe nicht trägt, muss Strafen zahlen.

Die gewachsenen und einfachen Strukturen und das Pflichtbewusstsein machen es möglich, dass trotz Verkehrschaos oder Monsunregen Essensbehälter eingesammelt und rechtzeitig zugestellt werden. 1998 zeichnete das Forbes Global Magazine die Dabbawallahs mit einem Six Sigma Rating aus, das nur Unternehmen erhalten, die ihr Leistungsversprechen zu 99,999999 Prozent einlösen. Diese Erfolgsgeschichte seit beinahe 120 Jahren begeistert Firmen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt.

Jean-Claude Kuner hat Geschichten über das System mit den Farbklecksen, arrangierte Ehen, den Schuhverkäufer, der den Glauben verloren hat, oder die Zukunftsperspektiven junger Inderinnen und Inder gesammelt. Er schafft mit Interviews, Spielszenen und dokumentarischem Material ein Hörstück über das indische Alltagsleben und das Phänomen der Essensausträger in einer multikulturellen und multireligiösen Mega-City, in der es keine Zeit für einen "Kampf der Kulturen" zu geben scheint. Diese internationale Großproduktion erhielt den Basler Featurepreis 2008 und den Prix Marulic 2009.

Zum Autor

Jean-Claude Kuner wurde 1954 in Basel geboren. Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der FU Berlin. Seit 1982 als Theater- und Opernregisseur und freischaffender Autor und Regisseur beim Funk tätig. Neben der Theaterarbeit auch Arbeiten fürs Radio. Längere Aufenthalte in New York und San Francisco. Seit 2001 lebt Jean-Claude Kuner in Berlin. 1996 beendete er seine Regietätigkeit am Theater und arbeitet seither als freier Autor und Realisator von Features und Musiksendungen.