Friederike Mayröcker und ihr Liebling, die Sprache

Die Seidenkleider der Anemonen

Eines ihrer berühmtesten und zugänglichsten Bücher trägt den Titel "Und ich schüttelte einen Liebling". Alle denken dabei an Ernst Jandl. "Aber der Liebling", sagt Friederike Mayröcker, "ist die Sprache", die flort auf tausend Notizzetteln um sie herum.

Die Mutter: Inspiriert und inspirierend, melancholisch, aufopfernd, künstlerisch veranlagt. Eine Modistin. Keiner ihrer Hüte gleicht dem anderen. Der Vater: Ein Lehrer. Im Halbschlummer sieht die Tochter, wie sein Blick lange auf einer von ihr vollgekritzelten Seite ruht.

Friederike Mayröcker: Geboren am 20. Dezember 1924 um vier Uhr nachmittags im großelterlichen Schlafzimmer in Wien 5. Die Hebamme hebt sie hoch und ruft "Engelsgotteskind!"

Die räumlichen und finanziellen Verhältnisse sind beengt. Wegen seiner zarten Gesundheit wird das Mädchen stark von der Umwelt abgeschirmt. Aber im Sommer geht’s aufs Land nach Deinzendorf im niederösterreichischen Weinviertel. Hier hat die Familie einen Bauernhof und die Sommer sind unwiderstehlich. Das Kind mit den blauen Augen und dem Ponyhaarschnitt erkundet die Gegend und streut Akazienblätter, um sich nicht zu verirren. Im elften Lebensjahr endet die Idylle. 1934 stirbt die Großmutter, ein Jahr darauf der Großvater, die Familie gerät in wirtschaftliche Not, der Vierkanter wird verkauft.

Tage fürs Schreiben und fürs Leben

Es sind die frühen Brüche, die manche Menschen zum Schreiben bewegen. Ab dem Alter von 15 betreibt es Friederike Mayröcker kontinuierlich. Niemand redet ihr das aus, aber es kommt auch niemand auf die Idee, dass man davon leben könnte. 1939: Vor ein paar Monaten ist Hitler in Österreich einmarschiert und Mayröcker führt Poesie im Schilde. Vielleicht rührt ihre Abneigung gegen Politik aus diesen frühen Ohnmachtserfahrungen. Anders, als ihre drei Jahre ältere Kollegin Ilse Aichinger, die als "Mischlingskind" ihre jüdische Mutter schützt (Eltern von "Mischlingskindern" durften nicht deportiert werden), hat sie diese konkreten Sorgen nicht. Aber es geht ihr alles nahe, was anderen Wesen zugefügt wird, ob Mensch, ob Tier, ob Pflanze. Der Feind alles Lebendigen ist der Tod. Das ahnt sie schon damals, heute weiß sie es.

1942 wird Friederike Mayröcker als Luftwaffenhelferin eingezogen. Von 1946 bis 1969 arbeitet sie als Englisch-Lehrerin in Wien Favoriten und sorgt für das finanzielle Auskommen der Familie. Favoriten ist ein Arbeiterbezirk, aber die Kinder waren damals noch brav. "Sie haben mich in Ruhe gelassen", erinnert sich die Autorin. Trotzdem erscheint ihr jeder Schultag als verlorener Tag fürs Schreiben und somit fürs Leben. 1956 kommt "Larifari. Ein konfuses Buch" heraus, die erste selbständige Publikation von mittlerweile mehr als hundert. 1969 scheidet Friederike Mayröcker aus dem Lehrberuf aus. Ihr gemeinsam mit Ernst Jandl verfasstes Hörspiel "Fünf Mann Menschen" hat den Preis der Kriegsblinden gewonnen und sie wagt den Sprung in die schriftstellerische Freiheit.

In die Tiefe tauchen

Ernst Jandl ihr Lebens- und Liebespartner. Vier Hörspiele haben sie gemeinsam verfasst, dann keine mehr, denn sie waren verschieden. Er ein Spracharchitekt, sie eine Poetin von Gnaden. Beim gemeinsamen Schreiben mussten beide Kompromisse schließen. Viele literarische Strömungen sind durch Friederike Mayröcker hindurchgegangen und haben sie unversehrt gelassen. Die Avantgarde, die Machos der Wiener Gruppe haben sie inspiriert, aber nicht verbogen. Ja, sie hat experimentell und schwer zugänglich geschrieben. Sie schreibt auch heute keine klassischen Romane und Krimis sind ihr ein Gräuel. Sie zieht sich alles zu, was der Alltag ihr bringt, was sie sieht und was sie hört, verwandelt es in ihre magische Sprache. Die offensichtliche Realität ist ihr zu oberflächlich, sie taucht in die Tiefe.

Eines ihrer berühmtesten und zugänglichsten Bücher trägt den Titel "Und ich schüttelte einen Liebling". Alle denken dabei an Ernst Jandl. "Aber der Liebling", sagt Friederike Mayröcker", "ist die Sprache", die flort auf tausend Notizzetteln um sie herum, die ihre Wohnung erobern, die wandelt sich von Tag zu Tag, was früher war, interessiert ihre Leser, sie nicht mehr.

"Am Anfang jedes Buches ist das Chaos", sagt Friederike Mayröcker, "man steht wie vor einer Wand und möchte alles gleichzeitig schreiben. Erst gegen Ende der Arbeit wird aus dem ursprünglichen Chaos ein Kosmos, der lebt, sich bewegt und andere Menschen erreicht."

Vor kurzem hat sie einen neuen Prosaband fertig gestellt, der im Frühjahr 2010 erscheinen wird. Titel: "Die Seidenkleider der Anemonen". Dann hat sie auch ihren 85. Geburtstag überstanden, den sie für keinen Grund zum Feiern hält.

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Hör-Tipps
Hörspiel-Studio, Dienstag, 15. Dezember 2009, 21:01 Uhr

Tonspuren, Freitag, 18. Dezember 2009, 22:15 Uhr

Nachtbilder, Samstag, 19. Dezember 2009, 0:08 Uhr

Ö1 Extra, Sonntag, 20. Dezember 2009, 21:15 Uhr

Veranstaltungs-Tipp
Sprachgeschenke für Friederike Mayröcker, Radiokulturhaus, Großer Sendesaal, Freitag, 11. Dezember 2009, 19:30 Uhr

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