Ein legendärer Straßenzug im Londoner East End

Brick Lane hält stand

In der Reiseliteratur wird Brick Lane längst nicht mehr vorrangig als angebliche Wirkstätte von Jack the Ripper ausgewiesen, sondern als Schauplatz des Nebeneinanders unterschiedlicher ethnischer, religiöser und kultureller Gruppen gepriesen.

Brick Lane ist eine besonders dichte Straße. Es gibt Textilläden, aus denen indische Popmusik dröhnt, es gibt pakistanische Restaurants und Lebensmittelgeschäfte, es gibt Abschnitte, an denen man sich durch Menschenmengen durchschlängeln muss, und solche, an denen man durchatmet und sich freut, wie aufregend bunt das Großstadtleben sein kann.

Befürchtungen, dass die von bengalischen Geschäften sowie dem samstäglichen Markt geprägte Straße ihre Lebendigkeit verlieren könnte, dass die ins Umfeld einziehenden "trendy people" das Lokalkolorit aufsaugen und in Form von Bedarf an Take-Away-Kaffee und Designermode wieder an die Umgebung absondern, solche Befürchtungen gibt es seit vielen Jahren. Sie bewahrheiten sich teilweise, und dennoch: Brick Lane hält sich.

Rätselhafte Widerstandsfähigkeit

Zwar ist die Straße durchzogen von gentrifizierungsbedingten Vintage-Kleidergeschäften und Kaffeehäusern, doch auch die alteingesessenen Bengali- und Bangladeshi-Händler sind noch zu finden, vornehmlich im unteren Straßenabschnitt zur Whitechapel High Street hin. Wie sich das mit der Mietpreisdynamik verträgt - gesteigerte Preise sind ja ein von Immobilienspekulanten erwünschtes Nebenprodukt der Gentrifizierung - ist im Falle Brick Lane rätselhaft.

Vielleicht gibt es kluge Lokalstadtplaner, die zu verhindern wussten, dass junge, wohlhabende Kreative sich das zentrumsnahe Viertel unter den Nagel reißen. Oder es ist doch nicht alles so vorhersehbar, wie die Stadtforschung glauben macht. Oder aber haben die Gentrifizier abgelassen von der widerständigen Brick Lane und sind weiter gen Osten gezogen, auf der Suche nach neuer Immobilienbeute.

Zwischen Abriss, Leere und Neubau

Unterschiedliche Stadien des Verfallsprozesses von Gebäudesubstanz und Phasen der Errichtung eines Bauwerks findet man auf Brick Lane: von zerfallen bis ganz neu. Eine Baulücke gibt den Blick frei auf eine alte Lagerhalle, wie sie hier früher wohl häufig in den Hinterhöfen gestanden sind. Die Freifläche in einer Seitengasse, auf der früher der Markt war, wo mit Gemüse, Fahrrädern und Hausrat gehandelt wurde, ist jetzt eine Baustelle.

Neben der alten, baufälligen Bahntrasse quer über Brick Lane wurde eine neue errichtet aus massivem Beton. Hier wird bald die London Overground verlaufen, die den Osten Londons, also vor allem den bisher mangelhaft durch öffentliche Verkehrsmittel erschlossenen Großstadtteil Hackney, an den Westen anbinden wird.

Mumifizierter Markt

Absehbar war, dass sich der Finanzstadtteil City - denn eine Ausdehnung ist geographisch nur in diese Richtung möglich -erbarmungslos über Spitalfields Market stülpen würde. Die alte Markthalle durfte aus Denkmalschutzgründen nicht abgerissen werden, doch vielleicht wäre das sogar ein würdigeres Ende gewesen.

Jetzt wirkt die toprenovierte Halle mit topmodernen Einbauten wie ein künstlich am Leben gehaltener, gruselig aufgeschminkter Leichnam.

Essen ohne Fußball

Früher wurde in der Mitte der Markthalle ein grobmaschiges Netz angebracht: Am Wochenende konnte man auf der einen Hälfte Fußball spielen, und auf der anderen waren die Marktstände aufgebaut. Getragene Kleidung gab es zu kaufen, neue Stücke von japanischen Designstudenten oder auch Vollkornbrot, eine rare Delikatesse im weißbrotverliebten London.

Jetzt gibt es, gleichsam die Bezeichnung Markt rechtfertigend, ein paar sauber aufgestellte Stände, deren Warenangebot von der Laufkundschaft teilnahmslos begutachtet wird, und vor allem viel Gastronomie. Die "office people" der City können hier "business lunch" einnehmen, und die Touristen freut es auch, denn die wollen sowieso am liebsten immer essen können. Am liebsten dort, wo es anstrichhalber authentisch-exotisch ist, aber keine Überraschungen zu befürchten sind.

Bagel zum Mitnehmen

Nichts geändert hat sich am Einkaufserlebnis im weltberühmten Bagel-Shop am Bethnal-Green-Road-Ende der Brick Lane: Man reiht sich in die lange Warteschlange ein, rückt die gläserne, mit Backwaren gefüllte Glasvitrine entlang immer weiter vor zur Kasse.

Genug Zeit, sich die Worte für die gewünschte Kombination zurechtzulegen, um dann bei der Bestellung möglichst schnell zu sein, denn man möchte den Verkauf ja nicht aufhalten und die autoritären Verkäuferinnen erzürnen. "Cream cheese with salad and one plain", also ein Bagel mit Frischkäse und grob geschnittenen Gurken- und Tomatenscheiben belegt, dazu einen leeren Bagel zum Mitnehmen, für später. "Cheers love", sagt die energetische Dame, um die Transaktion für beendet zu erklären, "next!".

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