Robert Misik über Lärm und "Lärm"
Die Gewissheit des Spießers
Wie soll man sich richtig verhalten, wenn aus benachbarten Wohnungen Bässe dröhnen und Wände zum Vibrieren bringen? Und führt die Forderung, dass man ruhig zu sein und des Nachts zu schlafen habe, unweigerlich in ein Spießerdasein?
8. April 2017, 21:58
Vor einigen Jahren wohnte unter mir ein bekanntes männliches österreichisches Fotomodell - um genau zu sein, das bekannte männliche österreichische Fotomodell. Tagsüber ein umgänglicher Mensch, wurde der Bursche nachts, wahrscheinlich unter Einwirkung raffinierter Substanzen, etwas eigenartig. Er hörte dann stundenlang dröhnend laut Musik. Ob sie gut oder schlecht war, vermag ich nicht zu sagen, durch Plafond und Fußboden kamen bei mir vor allem die Bässe an - die aber dafür satt und mächtig vibrierend.
Nach drei durchwachten Nächten und nachdem ich mir die Hand an seiner Tür tatsächlich blutig trommelte - was, nebenbei gesagt, vollkommen sinnlos war, denn er konnte mich wegen des Lärms in seiner Wohnung natürlich nicht hören -, tat ich etwas, wovon ich nie gedacht hätte, dass ich es tun würde: Ich rief die Polizei. Ich hatte keine andere Wahl: Mein damals dreijähriger Sohn brüllte schon, weil er schlafen wollte, und nicht konnte.
Die Einschaltung der Staatsmacht hatte zwar keinerlei praktischen Nutzen, da man global erfolgreiche Fashion Celebrities mit 100-Euro-Geldstrafen wegen Lärmerregung natürlich nicht beeindrucken kann; selbst von einer "Beschlagnahme der Lärmquelle", die der Polizist als Möglichkeit vorschlug, solle ich mir nicht viel erwarten, wurde mir gesagt: "Der kauft sich morgen gleich eine Neue".
So war das einzige nachhaltige Resultat meines Notrufs: Ich kam mir als der letzte Spießer vor.
Das werde ich dem Kerl von den Hugo-Boss-Plakaten mein Leben lang nicht verzeihen.
Wenn Sie mich jetzt fragen würden, weshalb exakt ich mir wie ein Spießer vorkam - ob wegen des Umstandes, dass ich die Polizei gerufen hatte, oder mehr wegen des Grundes, weshalb ich das tat, also der Ruhestörung wegen -, so müsste ich wohl antworten: aus beiden Gründen. Oder besser, diese Gründe addieren sich, ja, für mich hatten sie sich geradezu multipliziert. Die Polizei rufen, das tut man nicht. Aber sie wegen Lärmerregung rufen, das ist wirklich das Letzte.
Denn unter all den unsympathischen Gewissheiten des Spießers ist sie die womöglich am meisten Unsympathische: dass man ruhig zu sein und des Nachts zu schlafen habe. Philisterweisheiten, die mit der Dichotomie von Ruhe und Lärm spielen, sind seit Jahrhunderten geflügelte Worte, und deren berühmteste ist zugleich auch deren verabscheuungswürdigste: Jene, wonach Ruhe die erste Bürgerpflicht sei.
Jazz, Rock, Zwölftonmusik - was heute längst als Kunst gilt, galt, als es das Licht der Welt erblickte, den Spießern zunächst einmal als Lärm. Ja, die Bezeichnung mit dem Begriff "Lärm" selbst, ist ja nicht unschuldig, nicht wertfrei von der Art, dass die Spießer diese Musik eben als "Lärm" empfinden und sie deshalb auch als "Lärm" bezeichnen, was man ihnen in ihrer musikalischen Unaufgeklärtheit nicht vorwerfen könnte. Nein, so einfach ist das nicht. Etwas als "Lärm" zu bezeichnen, ist in solchen Fällen immer ein bewusster, ja: aggressiver Akt. Wer "Lärm" sagt, schreit mit der Meute. Deswegen sagt er auch, sobald die Meute "Kunst" sagt: Kunst.
Deswegen stehe ich in aller Regel auf Seiten des "Lärms", weil ich nicht auf Seiten jener stehen möchte, die sich über den Lärm echauffieren.
Dass ich es persönlich oft gerne leise habe und es auch keineswegs als Nachteil empfinde, in Bars mein Gegenüber zu verstehen, das ist natürlich eine gänzlich andere Sache.