Drei Monate nach dem Erdbeben

Leben in Lagern

In Haiti leben nach dem Erdbeben rund zwei Millionen Menschen in Zeltlagern - also fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Mehr als 1.300 Lager gibt es, mit Abstand die meisten davon sind in der Hauptstadt Port-au-Prince entstanden.

Mittagsjournal, 28.04.2010

Kaum Privatsphäre

Manche Lager dort bestehen nur aus 30 oder 40 Zelten, im größten leben bis zu 60.000 Menschen. In den meisten Lagern wohnen aber 1.000 bis 5.000 Menschen - ihre Zelte stehen eng beieinander, an echte Privatsphäre ist also kaum zu denken.

Provisorischer Alltag

Das Zeltlager hier im Stadtteil Mais Gate nördlich vom Zentrum liegt in einem Zwickel zwischen einer großen Straße und einer zerstörten Siedlung. Ungefähr 2.000 Menschen leben hier. Die Zelte kommen von unterschiedlichen Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz, das zeigen die Aufdrucke darauf. Es gibt einige wenige Klos und Duschen, Trinkwasser wird regelmäßig in großen Tanks gebracht.

Kohlen, Zucker, Wäscheklammern

Die Leute hier haben sich mit dem Lagerleben mittlerweile arrangiert. Fast jeder versucht auf seine Weise an ein bisschen Geld zu kommen. Die 25-jährige Michelin Beat etwa hat bereits vor dem Erdbeben einen Marktstand gehabt und versucht sich auch jetzt als Verkäuferin. Vor ihrem Zelt hat sie auf zwei großen braunen Tüchern Waren aller Art ausgebetreitet. Sie verkauft Kohlen und Wäscheklammern, aber auch Lebensmittel wie Zucker, den sie gerade in kleine Säckchen abfüllt: "Heute verkauft sich der Zucker besser, gestern war es der Reis. Das variiert von Tag zu Tag. Das Geschäft läuft zwar nicht gut, aber ich verkaufe von allem ein bisschen was", erklärt die junge Frau. Außerdem müsse man ja irgendwas tun, sagt Michelin, man könne ja nicht nur im Zelt herumsitzen.

Friseur zwischen Zelten

Das sieht auch der 31-jährige Ronald Piageot so, der stolz auf das selbstgemalte kleine Firmenschild zeigt, das er vor seinem Zelt aufgestellt hat: "Friseur-Salon Piageot" steht da in bunten Lettern drauf. Im Zelt steht ein in die Jahre gekommener Frisiersessel. "Vor dem Erdbeben habe ich Freunden und Bekannten auf der Straße die Haare geschnitten - eine Woche nach dem Erdbeben bin ich dann hierher gekommen, da hat es hier im Lager noch gar nichts gegeben, auch keinen Friseur, und da habe ich mich entschieden, dass ich das ab jetzt mache", so Ronald.

Preise variabel

Umgerechnet 90 Cent kostet ein Haarschnitt hier. Wenn sich jemand aber nicht einmal das leisten kann, verlangt Ronald oft aber auch nur halb so viel: "Mir bleibt von dem Geld, das ich beim Haareschneiden verdiene fast nichts übrig. Wenn jemand bei mir vorbei kommt und Hunger hat, dann gebe ich ihm Geld und außerdem habe ich eine alte Autobatterie und einen Fernseher gekauft, damit die Kinder hier im Lager am Abend Fernsehen können, sie haben ja sonst keine Abwechslung."

"Engel des Lagers"

Außerdem veranstaltet Ronald Spiele mit den Kindern. Für die Gewinner hat er immer einen kleinen Preis wie Süßigkeiten parat. Der Friseur wird deshalb von vielen auch "Engel des Lagers" genannt. Auch wenn er selbst nichts davon hören will.

Mit Musik zur "Normalität"

Zur Zerstreuung der Menschen hier trägt auch Francois Felix bei. Er ist Gitarrist und Sänger der Band Tisami Dubadu, alle Band-Mitglieder leben hier im Zeltlager. Ein wenig Geld verdienen sie mit Auftritten außerhalb des Lagers, hier spielen sie regelmäßig gratis.

Gewalt gegen Frauen

Keine Gewalt gegen Frauen - darum geht es in Felix Lied - und das mit gutem Grund: In den Lagern nehmen die Spannungen zwischen den Menschen nämlich immer mehr zu und darunter leiden vor allem die Frauen. Es kommt immer wieder zu Vergewaltigungen.

Gefahr: Seuchen und Überschwemmungen

Und auch sonst ändert die positive Einstellung der meisten Menschen hier in Mais Gates nichts daran, dass ihre Zelte nur sehr ärmlich ausgestattet sind und gegen wirklich starken Regen oder Hurrikans kaum schützen können, bei Überschwemmungen Seuchen drohen und die Zukunft Haitis und damit die der Menschen hier weiter im Argen liegen.