Ist der amerikanische Traum geplatzt?
Im freien Fall
Der Bulle in der Nähe der New Yorker Börse steht für Optimismus. Auf dem Cover von Joseph Stiglitz' neuem Buch befindet er sich im freien Fall. Der US-Ökonom Stiglitz erklärt in seiner gewohnt verständlichen Art, wie die beinahe unkontrollierten Märkte versagt haben.
8. April 2017, 21:58
Mehr als eine Krise
"Im freien Fall" ist ein Buch über die aktuelle Finanzkrise. Oder sollte man sagen "Wirtschaftskrise"? Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Stiglitz jedenfalls plädiert für zweiteres. Er sieht weit mehr als den Finanzsektor in der Krise - für ihn befindet sich der "Glaube an den freien Markt", ja sogar die "Weltordnung" im freien Fall.
Das einzig Überraschende an der Wirtschaftskrise von 2008 war die Tatsache, dass sie für so viele überraschend kam.
Stiglitz hatte sie als einer von sehr wenigen Ökonomen kommen sehen. Zu viele Indikatoren haben darauf hingewiesen, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann:
Ein laxer rechtlicher Ordnungsrahmen ohne billiges Geld hätte vielleicht nicht zu einer Spekulationsblase geführt. Wichtiger aber ist, dass billiges Geld zusammen mit einem gut funktionierenden oder gut regulierten Bankensystem zu einem Boom hätte führen können, wie es zu anderen Zeiten und an anderen Orten der Fall war.
Die Fehler verstehen
Stiglitz zeichnet minutzös den Krisenverlauf nach. Denn er ist der Meinung, dass man nur lernen und umdenken kann, wenn man die Fehler versteht.
Der eigentliche Hinweis darauf, dass etwas schief lief, kam, als Finanzminister Paulson im Kongress einen dreiseitigen Gesetzesentwurf mit dem Namen "Hilfsprogramm für notleidende Vermögenswerte" präsentierte, der ihm einen Blankoscheck über 700 Millionen Dollar ausstellte, dem Kongress keine Kontrollbefugnisse gewährte und keine gerichtliche Überprüfung vorsah. Als Chefökonom der Weltbank hatte ich solche Manöver miterlebt. Wäre dies in einer Bananenrepublik der Dritten Welt geschehen, wüssten wir, was nun folgen würde - eine massive Umverteilung von den Steuerzahlern auf die Banken und ihre Freunde.
Selbst konservative Kommentatoren behaupteten damals, dass Paulsons Vorschlag verfassungswidrig sei. Dem Gesetzesentwurf fehlten bei der Abstimmung im Repräsentantenhaus 23 Stimmen.
Einige Wall-Street-Banker klagten, die Medien würden die Stimmung verderben, indem sie das Programm Rettungspaket nannten. Sie zogen optimistischere Euphemismen vor, wie etwa "Erholungsprogramm". Paulson benannte die toxischen Wertpapiere kurzerhand in "Problempapiere" um, was sich viel harmloser anhörte. Sein Nachfolger Tim Geithner nannte sie später nur noch "Vermögensaltlasten".
Stiglitz nimmt sich kein Blatt vor den Mund, er patzt mächtige Männer an, sagt, was aus seiner Sicht falsch gelaufen ist. Er zeigt auf Schuldige und Mitschuldige der Krise. Und er zeigt auf, wer die Folgekosten tragen muss.
Wenn wir die Konditionen, die der amerikanische Steuerzahler bekam, mit dem vergleichen, was Warren Buffett ungefähr zur gleichen Zeit bei einem Geschäft mit Goldman Sachs für sich herausschlug, oder wenn wir sie mit den Konditionen vergleichen, die die britische Regierung durchsetzte, als sie britische Banken mit Kapital versorgte, zeigte sich ganz klar, dass die amerikanischen Steuerzahler übers Ohr gehauen wurden. (...) Schlimmer noch ist, dass sich das Finanzministerium unter Bush und später unter Obama auch dann noch weigerte, auch nur die mindeste Kontrolle auszuüben, als die Steuerzahler die "Haupteigner" einiger Banken wurden.
Tiefgreifender Wandel nötig
Joseph Stiglitz sieht mehr als nur den amerikanischen Traum geplatzt. Viel grundlegender, viel tiefgreifender ist der Wandel, der nun nötig ist. Die Rolle des Staates muss, so Stiglitz, überdacht werden. Denn in einer Wirtschaft, in der kaum noch Waren hergestellt werden, dafür umso mehr auf Innovation gesetzt wird, müssen die Aufgaben zwischen Staat und Privat neu verteilt werden.
In der Innovationsökonomie des 21. Jahrhunderts muss der Staat möglicherweise eine zentrale Steuerungs- und Regulierungsfunktion übernehmen - indem er die Grundlagenforschung sicherstellt, auf der das gesamte System basiert; indem er beispielsweise durch Fördermittel und Preise Anreize für Forschungsvorhaben liefert, die auf gesellschaftliche Bedürfnisse ausgerichtet sind; und indem er das Regime zum Schutz des geistigen Eigentums sach- und interessengerechter ausgestaltet, damit die Gesellschaft einen größeren Teil des durch die Anreize geschaffenen Wertpotenzials abschöpfen kann, ohne die damit verbundenen Kosten, einschließlich der Kosten der Monopolisierung tragen zu müssen.
Die Wirtschaftswissenschaften müssen erneuert werden, so Stiglitz. Die Idee, dass rationale Entscheidungen von Menschen in freien, also unkontrollierten Märkten zum bestmöglichen Ergebnis führen, sei widerlegt. Die schmale Grenze zwischen "Übertreibung" und "Betrug" wurde nicht nur vom mittlerweile inhaftierten Bernhard Madoff überschritten.
Diejenigen, die behaupten, sie könnten tun und lassen, was sie wollen, solange sie nicht gegen Gesetze verstießen, machen es sich freilich zu einfach. Schließlich geben die Unternehmen eine Menge Geld aus, um zu erreichen, dass nur solche Gesetze verabschiedet werden, die ihre verwerflichen Praktiken gerade nicht verbieten.
Findige Finanzindustrie, lasche Standards
Die Finanzindustrie habe sich jede erdenkliche Mühe gegeben, um Gesetze gegen Kreditwucher zu verhindern, um einzelstaatliche Verbraucherschutzgesetze auszuhöhlen und dafür zu sorgen, dass die US-Regierung mit ihren laschen Standards während der Bush-Jahre Entscheidungen einzelstaatlicher Regulierungsbehörden aufgehoben habe, schreibt Stiglitz
Schlimmer noch, viele Unternehmen haben intensiv auf die Verabschiedung von Gesetzen gedrängt, die sie aus ihrer regulären Pflicht entlassen sollen.
Die Ideologie des "Marktfundamentalismus" sei tot. Die Krise sei Gefahr und Chance zugleich. Die Chance sieht Stiglitz darin, ein neues Finanzsystem zu schaffen, ein neues Wirtschaftssystem zu gestalten, das allen Menschen, die es wollten, auskömmliche und sozial anerkannte Beschäftigungschancen gebe und in dem sich die Kluft zwischen Reich und Arm verringere, statt ständig größer zu werden.
Leider geht Joseph Stiglitz auf genau diesen Punkt - dem Ungleichgewicht zwischen armen und reichen Menschen - nur ganz zum Schluss seines Buchs und nur mit wenigen Worten ein. Den Ungleichgewichten zwischen den Ländern - etwa der Beziehung zwischen China und den USA - schenkt er mehr Beachtung.
"Im freien Fall" kann als Chronik verstanden werden, so exakt, ja penibel, ist die Nachzeichnung der Ereignisse. Passenderweise hat das Buch auch den richtig Umfang dafür: stolze 370 Seiten.
Der Optimismus, den Stiglitz in Bezug auf große Veränderungen in den Wirtschaftswissenschaften einerseits und in der Weltwirtschaftsordnung andererseits versprüht, ist angesichts der politischen Realität wenig nachvollziehbar. Aber er ist ansteckend. Vielleicht ist es also eine gute Idee, sich einige Stunden mit dieser Lektüre zu beschäftigen, und eine Zeit lang auf die aktuellen Nachrichten zu verzichten.
Service
Joseph Stiglitz, "Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft", aus dem Englischen übersetzt von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag
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