Roman von Jan Faktor
Georgs Sorgen um die Vergangenheit
Jan Faktor fertigte seinen Roman aus vielen kleinen Prosastücken, die er schon vor vielen Jahren geschrieben hatte. "Diese riesige Materialsammlung war dann die Grundlage für das eigentliche Schreiben" des nun vorliegenden, sehr humorvollen Romans.
8. April 2017, 21:58
Seit den 80er Jahren trug Autor Jan Faktor die Idee für seinen neuesten Roman mit sich herum. Nun endlich ist das Buch fertig und es ist wahrhaft ein opulentes Werk geworden: Auf nicht weniger als 639 Seiten erzählt Faktor die Geschichte von Georg, einem Buben aus Prag, der vor dem Hintergrund der großen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts seinen Weg sucht. Dabei hat Jan Faktor seine eigene Kindheit und Jugend in Prag als Modell genommen, wie er erzählt:
"Da ist sehr viel auch erfunden, aber eigentlich ist es natürlich mein Leben. Leute, die meine Familie kennen, die wissen dann genau, was völlig anders war und das ist auch sehr angenehm, dass ich diesen Freiraum und diesen Puffer auch drin habe, also eins zu eins ist das alles nicht."
Der ONKEL
Georg wächst in einem von Frauen dominierten Haushalt auf, umgeben von seiner Mutter, seiner über alles geliebten Großmutter Lizzy, unzähligen Tanten und einem handwerklich außerordentlich begabten, aber eigenwilligen Onkel, den Jan Faktor namenlos belässt, ihn nur als Onkel ONKEL bezeichnet, wobei das zweite "Onkel" in konsequenten Großbuchstaben steht.
"Ich vergebe nicht gerne Namen", bekennt Faktor. "Bei den Tanten musste ich, weil es so viele sind, bei dem Onkel hatte ich überhaupt keine Lust, und dann, ja, kam das Onkel ONKEL und dann ist das eigentlich ein bisschen absurd, aber dabei blieb es auch."
Diese zahlreichen Familienmitglieder leben alle zusammen in einer großen Prager Altbauwohnung, einer "innenarchitektonischen Hölle", wie Georg meint. Die Wohnung ist voll mit alten Möbeln, bei Bedarf werden Teile der Zimmer und Gänge mit Vorhängen abgetrennt, in diversen Kochnischen bilden sich wechselnde Koalitionen zwischen gerade nicht untereinander zerstrittenen Tanten.
Skurrile Umgebung
Männer sind selten und nur kurzzeitig vorhanden und werden nach ihrem Verschwinden nicht mehr erwähnt. Es ist also eine reichlich skurrile Umgebung, in der Georg aufwächst.
Lange Jahre meins Lebens empfand ich das meiste von dem, was ich erlebt habe, als so peinlich und unerträglich, dass ich froh war, es so nie wieder erleben zu müssen. Egal wie glücklich ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder war, in der Regel fand ich die Umstände meiner Aufzucht fürchterlich. Leider bauten sich diese Gefühle mit der Zeit nicht ab, sie summierten und verformten sich, quetschten sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander. Ich gewöhnte mir vorsichtshalber an, auf meine groteske Familie und auch mich mit Despektion herabzublicken. Ich sah uns wie von außen durch Glas, ich sah uns wie durch eine kalte Wasserwand. Meine Blicke kühlten sich bei jeder neuen, naturgemäß oft minderwertigen Lichtbrechung weiter und weiter ab. In unserer Wohnung gab es für diese Art von Blicken etliche halberblindete Spiegel, den größten von ihnen schlug ich bei einem Wutanfall kaputt.
Vor allem den hygienischen Verhältnissen der Wohnung widmet Jan Faktor viel Aufmerksamkeit. Mit akribischer Genauigkeit berichtet er von Dreck und Schmutz, von klebrigen Vorhängen und schmierigen Möbeln. Dieser Hang zum Ekligen zieht sich durch den ganzen Roman, auch Georgs erste, viel ältere Freundin, die Bildhauerin Dana, lebt in hygienisch höchst fragwürdigen Umständen, aber gerade diese Passagen machten Faktor beim Schreiben besonderes Vergnügen.
Trotz Ekel nicht abstoßend
"Diese Ekligkeiten sind mir auch wichtig, weil ich damit im Grunde auch zeige, dass ich genau hingucke", so Faktor. "Wenn man sich zum Beispiel das Küssen, Mund zu Mund, Zungenkuss vorstellt, was für Keimströme hin- und herfließen, man darf nicht daran denken, sonst würde man niemanden küssen. (...) Wenn das nur so angerissen oder nur schlagwortartig benannt wird, dann kommt der Ekel beim Lesen bei mir nicht hoch, weil ich es nie so plastisch vor mir habe. Wenn ich es mache, mache ich es richtig mit einem gewissen Tiefgang. Und dann wird es wahrscheinlich für viele doch eklig, weil das auch in die Substanz, in dieses Faulende und Keimende und Stinkige und so weiter wirklich reingeht."
Dennoch ist der Roman alles andere als abstoßend, denn Jan Faktor beschreibt all dies mit derart viel skurrilem Humor, dass man direkt Spaß am Ekel bekommen könnte. Skurril ist auch der Titel des Werks: "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" – wobei der Zusatztitel entstand, weil Jan Faktor unbedingt den Verweis auf Prag unterbringen wollte:
"Dieser heilige Hodensack-Bimbam, der spielt keine so große Rolle, da ist an einer Stelle eine Anrufung, an dieser Stelle ist Georg ziemlich fertig und fleht eine höhere Gewalt an. Und da fiel mir ein, den heiligen Bimbam. Und heiliger Bimbam ist abgenutzt, das kann ich nicht benutzen, und dann kam diese Idee dieses Schaukelns und dann hatte ich das. Inzwischen denke ich, habe ich vielleicht dem eigentlichen Bimbam auch einen Todesstoß versetzt, weil jetzt wird, wenn das Buch einigermaßen bekannt wird, der arme heilige Bimbam mit dem Hodensack-Bimbam im Grunde gleichgesetzt und das wollte ich nicht."
Akribisch recherchiert
In einem vergnüglich-lockeren Ton lässt Jan Faktor Georg erwachsen werden. Er erzählt von fragwürdigen chemischen Experimenten, von wechselnden Freundschaften und Liebesgeschichten, schließlich von Georgs Entschluss, der Prager Enge und seiner Familie in den Bergen zu entkommen.
Nach zwei Jahren kehrt Georg allerdings zurück, verdingt sich als Hilfsschlosser und findet, wonach er so lang gesucht hat. All dies lässt Faktor vor einem bewegten, politischen und gesellschaftlichen Hintergrund spielen, dessen wahrheitsgetreue Schilderung ihm mitunter nicht geringe Probleme bereitete, wie er sagt:
"Was faktisch vorkommt und transportiert wird, wollte ich auch genau haben. Und dann war ich so besessen, dass ich auch bei Sachen, die im Grunde überhaupt nicht so genau sein müssen, wo ich mir hätte Freiheit nehmen können, dann habe ich mich verbissen, habe gesagt, nein, ich will das genau wissen, habe dann wegen eines halben Satzes - bin noch in Prag in die Hochschule für Ökonomie, habe mich mit dem Pressesprecher getroffen und habe mir Dinge kopiert und korrespondiert und am Ende hatte ich rausgekriegt, was in dieser Schule vor dem Krieg drin war. Das ist viel Arbeit."
Gerade diese Akribie jedoch ist es, die dem Roman seine Glaubwürdigkeit verleiht. Gepaart mit Faktors schrägem Humor sorgt sie dafür, dass man Georg gern durch das ganze Buch folgt und beim Lesen genauso viel Spaß hat wie der Autor beim Schreiben. "Weil es sich auch um Jugend und Kindheit handelt, bin ich auch so ein bisschen regrediert vielleicht", meint Faktor. "Obwohl ich das wunderbar finde, dass ich es früher nicht geschrieben habe. Früher hätte ich es so in der Form und Genauigkeit nicht hinbekommen. Das heißt, das habe ich noch zum richtigen Zeitpunkt, ich bin noch jung genug, hingekriegt. Hoffe ich."
Service
Jan Faktor, "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag", Kiepenheuer & Witsch
KiWi - Jan Faktor