Novelle von György Sebestyén

Thennberg

György Sebestyén verfasste schon während seiner Schulzeit erste Gedichte, Essays und Erzählungen. Seine Erzählung "Thennberg", jetzt wieder veröffentlicht, ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

1969 war bekanntlich das Jahr der "verbesserung mitteleuropas", die manche mit Begeisterung, manche aber auch mit Befremden zur Kenntnis nahmen, und schon im Jahr darauf verkündete Michael Scharang, nun sei endgültig Schluss mit dem Erzählen.

In dieser Phase des revolutionären Aufbruchs, der Manifeste und der Verwerfungen, fiel ein unscheinbares Buch wie "Thennberg oder Versuch einer Heimkehr" nicht weiter auf. Sein Autor, György Sebestyén, hatte bereits eine gescheiterte Revolution hinter sich - am Ungarnaufstand 1956 war er aktiv beteiligt gewesen -, hatte sodann Schritt für Schritt die Sprache gewechselt, sich von einem ungarischen in einen österreichischen Autor verwandelt und galt nun, 39-jährig, hierzulande als ein Vertreter der literarischen Reaktion.

Mit dem Erzählen Schluss zu machen kam für ihn keinesfalls in Betracht, und wenn er von "Mitteleuropa" sprach, so meinte er damit vor allem ein breites Reservoir kultureller und geistiger Traditionen, denen er sich aufs Engste verbunden fühlte, und eine gleichermaßen historische wie gegenwärtige Lebenswelt, aus der er alle seine Themen und Sujets bezog.

Teil des literarischen Establishments

Was er als Erzähler vermochte, zeigt die Novelle "Thennberg" auf exemplarische Weise, und der Verlag Braumüller hat gut daran getan, sie rechtzeitig zum 20. Todestag des Autors neu herauszugeben. In seinem ausführlichen Nachwort zu dieser Neuausgabe wertet der Wiener Autor Helmuth A. Niederle sie nicht nur als Höhepunkt innerhalb des Prosaschaffens von Sebestyén, sondern darüber hinaus auch als ein Grundbuch der österreichischen Nachkriegsliteratur.

Dass bislang weder die Germanistik noch die literarische Öffentlichkeit dieser Novelle einen solchen Status zugebilligt hat, liegt zum einen wohl daran, dass sie schon wenige Jahre nach ihrem Erscheinen in der Versenkung verschwand, zum anderen aber auch daran, dass ihr Verfasser Zeit seines Lebens von der Öffentlichkeit in erster Linie als Publizist und als Funktionär des heimischen Literaturbetriebs wahrgenommen wurde und erst in zweiter Linie als Erzähler und Romancier. Während er selbst Teil des literarischen Establishments war, konnte sein Werk sich auf Dauer nicht etablieren.

Gute Kritiken

An Kritikerlorbeeren allerdings mangelte es ihm keineswegs. So schwärmte etwa Hilde Spiel seinerzeit in der "FAZ" von Sebestyéns "Thennberg" als einer "Suche nach der verlorenen Zeit en miniature" und gelangte schließlich zu folgendem Resümee: "Kein modernistisches, sondern ein wahrhaft modernes Buch!"

Gerade weil es nicht einer literarischen Mode verpflichtet ist, sondern den Methoden und Formen moderner Erzählprosa, hat es sich in den 40 Jahren, die seit seinem Erscheinen vergangen sind, gut gehalten und von seiner Wirkung nichts verloren. Schon nach den ersten Zeilen gerät man sofort in den Sog dieser Prosa und der Geschichte, die sich bruchstückhaft in ihr entfaltet.

Die Qual des Gehorchens

Protagonist dieser Geschichte ist Richard Kranz, ein Überlebender der nationalsozialistischen Mordmaschinerie, in der seine Eltern und viele seiner Verwandten ums Leben gekommen sind. Sechs Jahre war er in verschiedenen Lagern und weiß daher sehr genau um die Qual des Gehorchens:

Das Gehorchen roch nach durchschwitzten Fußlappen, nach leeren Mägen, aus denen der Dunst des Magensaftes durch zahnlose Münder herausquillt, nach eiternden Wunden, zum Überfließen vollen Latrinen, nach kaltem Metall, nach Fäulnis, aber das Fragen duftete wie der Kuchen voller Rosinen auf dem Geburtstagstisch, die roten Spannteppiche, die mit Gobelin bespannten Sitzgarnituren, die pastellfarbenen Tapeten eines guten Restaurants (...) Fragen zu dürfen, das war der Luxus schlechthin.

Aufbruch in die Vergangenheit

Bei der Befreiung durch die Rote Armee im April 1945 ist Richard Kranz gerade einmal 22 Jahre alt, hat seine Zukunft hinter sich und schaut nach vorne in seine Vergangenheit. Durch seinen langen Aufenthalt in der Hölle abgeschnitten von seinem Leben, seiner Kindheit und Jugend, nach der Befreiung allein und auf sich gestellt, ausgemergelt und kraftlos, macht er sich nun auf den Weg in das nahegelegene Thennberg, eine fiktive niederösterreichische Kleinstadt. Dort hat er vor 1938 mit seiner Familie, einer jüdischen Wiener Familie des gehobenen Bürgertums, Sommer für Sommer verbracht; dort weiß er viele Erinnerungen, viel abgelegte Zeit aufbewahrt; dort sind seine erste Liebe und sein bester Jugendfreund zuhause; dort und nur dort also wird ihm, so glaubt er, der Wiedereinstieg in die eigene Biografie - und damit auch ein neuer Anfang - gelingen, wird er imstande sein, sich aus Spuren und Überbleibseln seiner eigenen Vergangenheit eine Gegenwart zu schaffen und einen neuen Anfang zu setzen.

Seine Hoffnungen aber werden restlos enttäuscht: Die Frau, die er in Thennberg geliebt hat, ist inzwischen gestorben, sein Jugendfreund befindet sich noch in Kriegsgefangenschaft, und dessen Frau ermahnt ihn dringend, den Ort auf schnellstem Wege wieder zu verlassen. Er meint auf vertrautem Boden zu stehen und vertraute Wege zu gehen, und ist doch ein Fremder geworden.

Von dem Leben, das er und die Seinen in den Jahren vor der Katastrophe hier geführt haben, sind nur noch Kulissen übrig. Das Stück, in dem sie mitgewirkt haben, wurde längst abgesetzt, die meisten Akteure wurden ermordet.

Kein Ziel, aber ein Weg

Kranz geht durch die Kulissen seiner Kindheit und hält Ausschau nach Mitspielern, nach Menschen, die an die Stelle der Toten treten und bereit sind, die verwaisten Rollen auszufüllen. So findet er alsbald für die Frau, die ihm seinerzeit, im letzten Sommer vor dem großen Morden, die Liebe erschlossen hat, Ersatz in der Gestalt ihrer Tochter, bei deren Stiefvater er sich, nichts ahnend, für die Zeit seines Thennberger Aufenthalts einquartiert hat.

Die Beziehung, die er mit ihr beginnt - sie wird geschildert wie etwas, das sich im Halbschlaf, zwischen Traum und Erwachen ereignet -, ist nichts anderes als der verzweifelte und sinnlose Versuch, sich der Gegenwart zu verweigern und Vergangenes, Unwiederbringliches zu wiederholen und fortzusetzen. Die Wiederholung scheitert, bleibt unglückliche Episode und kostet dem Mädchen das Leben. Eines Tages wird sie im Wald ermordet aufgefunden, und Richard Kranz, der den Mörder kennt, ist zum Schweigen verurteilt (denn wer spricht schon im Hause des Mörders vom Mord?).

Am Ende bleibt ihm nichts anderes übrig, als Thennberg, seine Kindheit und seine Jugend verloren zu geben und das Weite zu suchen. Zwar hat er kein Ziel, wohl aber einen Weg und in Markus Löw, einem Freund und Schicksalsgenossen aus dem KZ, auch einen Weggefährten. Er und nicht Richard Kranz hat das erste und das letzte Wort in diesem Buch, und so kommt es, dass am Ende nicht Resignation steht, sondern die folgende Aufforderung:

Komm! Wenn man die Füße bewegen kann, dann geht man eben, und wozu willst du fragen, warum.

Text: Christian Teissl

Service

György Sebestyén, "Thennberg oder Versuch einer Heimkehr", Braumüller Verlag