Kolumne von Thomas Schaller

Komme gleich wieder, Godot

Ein Poster mit diesem Text fand ich kürzlich an der Wohnungstür einer neuen Bekannten. Nett, dachte ich und betätigte den Klingelknopf. Die Tür ging auf und die Dame, die hinter der Tür wohnte, lächelte mich an.

Das Poster sei ein Intelligenztest für Besucher, grinste sie: Mit Leuten, die so blöd seien, auf das literarisch inspirierte Schild hin vor der Tür zu warten und zu warten und zu warten - und deren gäbe es nicht wenige - mit solchen Leuten wolle sie ohnehin nicht reden, meinte sie. Ich lachte auch.

Für mich dachte ich noch: Wenn überhaupt, ist das Poster natürlich kein Intelligenztest, sondern ein Bildungstest. Selbst ein Einstein, der bezüglich des Theaterschaffens des 20. Jahrhunderts unbewandert wäre, könnte den Test nicht bestehen. Ich schon. Uff, Glück gehabt.

Vor allem erinnerte mich der Vorfall aber an meinen Lateinlehrer selig. Wie man ja überhaupt im Alter mehr und mehr zur sentimentalen Nostalgie neigt und sich ständig an irgendetwas erinnert. Jener ehrwürdige Altphilologe, der mir damals freilich nicht ehrwürdig, sondern noch weit verzopfter vorkam, als die Sprache, die er unterrichtete, hatte einen Standardspruch auf Lager: "Schaller, ein bissl Bildung tät' dir auch nicht schaden."

Das verkündete er notorisch, wenn ich, Kaugummi kauend, unrasiert (was "unrasiert" damals auch bedeuten mochte, so arg viel war zum Rasieren ja leider nicht vorzufinden) und mit wirrem Haarschnitt gerade erklärt hatte: Von all dem sinnfreien Zeug, das man an dieser Schule lerne, sei die lateinische Grammatik ja wohl das Allersinnloseste.

Von Bildung und vom Bildungssystem ist heute viel die Rede. In Bildung muss auch und gerade in Krisenzeiten investiert werden, weil: Bildung und gebildete junge Menschen sind die Zukunft. - So wird gesagt. Als müsste diese jungen Menschen die Zukunft von uns Alten interessieren. Persönlich erscheint mir das eher als Zumutung: Ich hätte mich damals strikt geweigert, mich neben allem Anderen - wie etwa: erste Liebe, erster Sex, zu wenig Taschengeld, und so weiter - auch noch um die Zukunft zu kümmern. Zumal um die der Alten!

Die heutigen Maturanten können diese Zukunft ohnehin nicht garantieren, sie werden immer dümmer, klagen die Professoren an unseren Universitäten, die für weitere Bildung nach der Schule sorgen sollen. Ein neues Bildungssystem müsse her, wird verkündet, eine Neue Schule, eine integrative Schule, eine Gesamtschule, eine Begabtenschule, eine gemeinsame Schule für was weiß ich, wen. Die Begabten müssen gefördert werden, oder alle müssen gefördert werden, hört man. Je nach Geschmack und politischem Lager. Der unmenschliche Leistungsdruck an der Schule sei zu reduzieren, meinen die einen, die Schule müsse die Schüler fordern, rufen die anderen.

Offen gesagt, ich habe meine Zweifel, dass irgendetwas davon etwas nützen wird.

Meinerseits gerate ich bei solchen Debatten immer in Versuchung, wieder zum Kaugummi zu greifen. Eigentlich schmeckt mir Kaugummi ja mitnichten, heute schon gar nicht. Aber auch damals nicht wirklich, als ich das wehrlose Objekt all dieser Bildungsversuche war. In Wahrheit hasse ich Kaugummi.

Aber mit Lehrern und anderen Bildungsvermittlern konnte man einfach besser reden, wenn man dabei breit und kräftig kaute: Das grinsende Mahlen meiner jungen Zähne auf dem klebrigen Gummi provozierte diese Respektspersonen enorm und brachte sie zielsicher aus dem Konzept. Man sicherte sich damit einen strategischen Vorsprung, dem der Feind nichts entgegen zu setzen hatte: einen Lateinlehrer, der einfach frech zurückkaute - den gab's dann doch nicht.

Noch weit besser wirkten natürlich Kaugummi-Blasen. Die standen bei uns bildungsgestraften Jungs, und durchaus auch bei den Mädchen, entsprechend hoch im Kurs. So eine kleine Blase, kurz aufgebläht und gezielt zum Platzen gebracht, konnte einen Lateinlehrer praktisch ins Burn Out befördern.

Ja, ja, Sie haben schon recht: Den Ausdruck "Burn Out", das Lieblingswort aller heutigen Lehrergewerkschafter, gab's damals noch nicht. Etwas dieser Art halt: Eine gute, schnell eingesetzte Kaugummi-Blase brachte den Lehrer der finalen Nervenkrise jedenfalls beträchtlich näher.

So hielt ich, das kann niemanden wundern, in jenen Zeiten die Fähigkeit, Kaugummis zu Blasen beliebiger Größe aufzublähen und sie präzise und zeitgenau gesteuert platzen zu lassen, für den wichtigsten Bildungsinhalt überhaupt. Für fraglos essenzieller für mein bescheidenes, junges Leben als alle Lehrstoffe, die unsere Professoren uns beizubringen versuchten.

Und, siehe da: Mit dieser lebensnahen Einstellung zu Bildung, Bildungsinhalten und zur abendländischen Bildungstradition brachte ich's letztlich doch bis zum Glossenschreiber. Und sogar hinter jene Tür, hinter der nicht Godot wartete. Was will man mehr?