Von Budapest in die Welt hinaus

Die Flucht der Genies

Kein anderes Land Europas hat, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, so viele Nobelpreisträger hervorgebracht wie Ungarn. Neun ungarische Genies, die ihre Heimat verlassen und ins englische und amerikanische Exil fliehen mussten, portraitiert Kati Marton.

Wettlauf um Kernreaktion

Es ist ein schwüler Julitag im Jahre 1939, als zwei junge Physiker Albert Einstein aufsuchen. Sie wollen ihn überreden, einen Brief zu unterschreiben, den sie aufgesetzt haben. Darin bitten sie den Präsidenten der Vereinigten Staaten, er möge dafür sorgen, dass es zu einem "kontinuierlichen Austausch zwischen der Regierung und einer Gruppe von Physikern" komme, um die Erforschung der Kernreaktion voranzutreiben.

Die beiden Wissenschaftler wussten, dass deutsche Forscher schon lange an der Atombombe arbeiteten, und sie fürchteten, die USA würden den Wettlauf verlieren. Die beiden Physiker hatten auch ein persönliches Interesse daran, dass Amerika von Deutschland in punkto Atombombe nicht überholt würde; denn nichts fürchteten die beiden ungarischen Juden mehr, als dass der Mann, der sie ins Exil getrieben hatte, den Krieg gewinnen könnte.

Im Oktober 1941 wurde die US-Regierung schlussendlich aktiv. Und das "Manhattan Project" gestartet. Mit dabei waren nicht nur jene beiden Ungarn, die Einstein besucht hatten: Eugene Wigner und Leó Szilárd sondern auch Edward Teller und ein vierter ungarischer Jude, der als der klügste von ihnen galt und später noch maßgeblich an der Erfindung des Computers beteiligt sein sollte: John von Neumann.

Die Vorkriegsgeneration

In ihrem Buch "Die Flucht der Genies" zeichnet Kati Marton auch das Leben des Schriftstellers Arthur Köstler nach, der mit seinem Roman "Sonnenfinsternis" das erste Zeugnis des stalinistischen Terrors vorgelegt hatte. Weiters das des Regisseurs Michael Curtiz, der unter anderem Casablanca drehte, und das von Alexander Korda, der in England als Filmproduzent berühmt wurde - und sie berichtet über die beiden legendären Fotografen Robert Capa und André Kertesz.

Gemeinsam waren ihnen eine Zeit und ein Ort. Sie gehörten der Generation an, die zwischen dem letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren wurde, und alle begannen ihren Weg in Budapest.

Anziehungspunkt für die hellsten Köpfe

Das Budapest des frühen 20. Jahrhunderts war eine boomende Metropole. Ähnlich wie Paris, New York oder Berlin war es ein Anziehungspunkt für die hellsten Köpfe. Man traf sich im Café New York - das Michael Curtiz später als Vorlage für das legendäre Rick‘s Cafe im Film Casablance dienen sollte - und flanierte auf den Prachtboulevards.

Für Juden bot das Budapest dieser Zeit einen großen Vorteil: Anders als in Russland oder Rumänien waren die Juden an den großen akademischen und kulturellen Institutionen zugelassen. Und so war die Stadt ein regelrechtes Labor für große Geister. Die Assimilierung der Juden vollzog sich hier rascher als irgendwo sonst in Europa. Um 1910 waren die Hälfte der Ärzte und Anwälte, ein Drittel der Ingenieure und ein Viertel der Künstler und Schriftsteller von Budapest Juden.

Ende des Goldenen Zeitalters

Als der Erste Weltkrieg endete, endete auch das Goldene Zeitalter Ungarns. Die Juden fühlten sich mehr und mehr isoliert und flüchteten. Zuerst nach Wien, dann nach Berlin, dann nach Paris und schließlich nach England oder in die USA.

Die neun ungarischen Juden, die Kati Marton portraitiert, haben bis auf ihre Herkunft nichts gemein. Einige wurden sehr schnell reich - so wie der Regisseur Michael Curtiz oder der Filmproduzent Alexander Korda, andere waren sehr lange sehr arm. Der Schriftsteller Arthur Köstler zum Beispiel.

Einige behielten ihren richtigen Namen - wie Leó Szilárd - andere änderten ihn. Aus Sándor László Kellner wurde Alexander Korda, aus Endre Ernő Friedmann Robert Capa. Was sie aber eint, ist ihr Außenseiterstatus. Auch wenn sie in ihrem späteren Leben äußerst erfolgreich waren, so fühlten sie sich doch immer isoliert. Oder wie es Arthur Koestler ausdrückte:

Die Ungarn sind das einzige Volk in Europa, das keine ethnischen und sprachlichen Verwandten in Europa hat; darum sind sie die einsamsten Menschen auf diesem Kontinent. Vielleicht erklärt dies die besondere Intensität ihres Daseins. Hoffnungslose Einsamkeit nährt ihre Kreativität, ihre Sehnsucht nach Erfolg. Ungar zu sein, ist eine kollektive Neurose.

Nacherzählung eines Jahrhunderts

Kati Marton, die 1949 in Budapest geboren wurde und Ungarn 1957 verließ, lässt in ihr Buch auch immer wieder persönliche Erlebnisse einfließen. Sie erzählt über die ungarischen Juden mit erkennbarer Sympathie. Was dazu führt, dass die dunklen Seiten der Personen, etwa jene von Arthur Koestler, nicht angeschnitten werden.

An sich wäre ja schon jeder Einzelne der hier Porträtierten ein eigenes Buch wert. Marton schafft es aber, die Fülle des Materials so zu verdichten und so anzuordnen, dass hier mehr entsteht als eine normale Geschichte. Ihr gelingt es, das 20. Jahrhundert anhand von neun Menschen packend und lesenswert nachzuerzählen.

Marton Buch belegt erneut, welch Wahnsinn es war, die klügsten Geister zu ermorden oder zu vertreiben. So war Deutschland noch bis in die frühen 1930er Jahren zum Beispiel Anziehungspunkt für die besten Physiker der Welt. Als Hitler aber die Macht übernahm, änderte sich alles.

Deutschland hat sich vom Weggang dieser Genies nie erholt. Das Land konnte seine herausragende Stellung im geistigen Milieu nicht mehr zurückgewinnen. Als es versuchte, die Juden zu vernichten, vernichtete sich Deutschland selbst.

Service

Kati Marton, "Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt. Eine literarische Reportage", aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen, Eichborn Verlag

Eichborn Verlag