Auf den Spuren der jüdischen Gemeinde

Eine unsichtbare Minderheit in Istanbul

Konstantinopel war die Hauptstadt von Byzanz und später des Osmanischen Reichs. Dass Kultur, Handel und Wissenschaft in der türkischen Metropole, die seit 1930 Istanbul heißt, auch von ihren jüdischen Bewohnern stark geprägt wurde, ist kaum bekannt.

"Es sind europäische Geschichten."

Christoph Mais Eindrücke von der Spurensuche

Das Jüdische Museum in Wien beleuchtet derzeit in der Ausstellung "Die Türken in Wien" die Geschichte der türkisch-jüdischen Gemeinde. Der Verein der Freunde des Jüdischen Museums begab sich unlängst in einer Exkursion auf Spurensuche in Istanbul.

Teilgenommen hat auch Timothy Smolka, der anmerkt, er habe sich zuvor keine Gedanken darüber gemacht, dass es auch in muslimischen Ländern jüdische Gemeinden gibt - wenn auch die Zahl der in Istanbul lebenden Juden heute gering ist, etwa 20.000, bei einer Einwohnerzahl von 17 Millionen.

Keine "Mazzesinsel" in Istanbul

"Im Straßenbild merkt man nichts Jüdisches. So etwas wie in Wien die Leopoldstadt, wo die orthodoxen Aschkenasen zuhause sind, gibt es dort überhaupt nicht", schildert Smolka. Christoph Mai, Generalsekretär des Freunde-Vereins, ergänzt: "Das jüdische Leben ist nicht öffentlich wahrnehmbar. Man muss hinter die Kulissen schauen, und dort findet es, also außer in Synagogen, auch in Vereinen, Sportzentren, im Zeitungswesen statt. Aber das macht es natürlich schwierig für den Besucher von Aussen, Zugang und Zutritt zur jüdischen Gegenwart in Istanbul zu bekommen."

"Heute können alle gut Türkisch, das macht sie unsichtbar. In den letzten 40 Jahren hat die Population von Istanbul zehnfach zugenommen, das heißt alle Minderheiten sind unsichtbar geworden", erklärt Oksan Svastics die Abwesenheit von Juden im Stadtbild.

Frühstück mit älteren Herrschaften

Im Mandelbaum Verlag hat Svastics das Buch "Jüdisches Istanbul" herausgebracht, das auch einen Aufsatz der Schriftstellerin Vivet Kanetti enthält. Sie beschreibt ihre Kindheitserinnerungen:

Wenn auf den Straßen als Männerstimmen nur noch die Rufe der Gemüsehändler, der Fisch-, Eis- und Maisverkäufer zu hören waren, wurde zu Hause das zweite Frühstück für die Älteren vorbereitet, denn im Sommer weilten in jüdischen Häusern mindestens eine, wenn nicht, wie bei uns, drei ältere Herrschaften. Das letzte Frühstück gehörte den Kindern. Dann gingen die stillen Verhandlungen, Erpressungen, Nervenkriege unter den wie Englein schlafenden, wie Teufel aufwachenden Bälgern und den Alten los, welche versuchten, ihre wie japanisches Papier brüchig gewordenen Knochen vor ihnen zu schützen.

Ester Kira, politisch ambitionierte Hebamme

Zu den Persönlichkeiten, die Oksan Svastics vorstellt, gehört etwa die portugiesische Hebamme und Schmuckhändlerin Ester Kira, die im 16. Jahrhundert zur engsten Vertrauten der Lieblingsfrau des Sultans wurde, und schließlich auch für diplomatische Ratschläge herangezogen wurde. Oder die Bankiersfamilie Kamondo, die als "Rothschilds des Ostens" bezeichnet wurden, erzählt die Autorin:

"Als Salomon Kamondo 1873 in Paris gestorben ist, hat er sich seine Trauerfeier in Istanbul gewünscht. An diesem Tag hatten alle Finanzorganisationen geschlossen. Die Familie war nicht nur reich und hatte Macht, sondern war auch großzügig und hat viel getan für die jüdische Gemeinde. In der Modernisierung von Istanbul haben sie eine wichtige Rolle gespielt."

Fahrräder und Filmvorführungen

Das moderne Leben in der Türkei - wie es dann auch von Atatürk eingeführt wurde - war wesentlich von jüdischen Stadtbewohnern beeinflusst. Das erste Kino, das erste Fahrradgeschäft - all das waren Verdienste von Juden. Heute sind die meisten von ihnen vergessen - wie auch der Bankier Salomon Kamondo.

Istanbul sei eine dynamische Stadt, sagt Oksan Svastic: "Anders als in Wien vergessen wir alles gleich. Alles ist sehr schnelllebig." Das mag zwar für Istanbul-Besucher den Reiz der Stadt ausmachen - für historische Recherchen sei der ständige Zukunftsdrang jedoch ein erschwerender Umstand, erzählt Oksan Svastics aus eigener Erfahrung: "Die Straßennamen wurden in den letzten Jahrzehnten fünfmal geändert, ebenso die Hausnummern. Das macht es nicht leicht, einen Stadtführer zu schreiben! Ja, Istanbul ist schwer in Worte zu fassen."

Service

Oksan Svastics, "Jüdisches Istanbul", Mandelbaum Verlag

Ausstellung "Die Türken in Wien - Geschichte einer jüdischen Gemeinde", Jüdisches Museum Wien, bis 31. Oktober 2010

Buchpräsentation am Mittwoch, 9. Juni 2010 um 18:30 Uhr, Jüdisches Museum Wien, mit sephardischer Musik und türkischem Wein

Mandelbaum Verlag
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