Der nächste Streich von Joyce Carol Oates

Geheimnisse

In ihren Romanen seziert Joyce Carol Oates mit Vorliebe den "Amerikanischen Traum" und lotet die Untiefen der menschlichen Psyche aus. "Geheimnisse", im Original "The Gravedigger's Daughter", hat die Autorin ihrer Großmutter Blanche Morgenstern gewidmet.

Jacob Schwart, Totengräber in Milburn, N. Y., wartet bis es Nacht wird. Dann geht er auf den Friedhof und pisst heimlich auf die Gräber. Das ist seine kleine Rache an den Amerikanern, die das besiegte Deutschland mit Millionen aufpäppeln. Insgeheim hält er sie für in der Wolle gefärbte Nazis. Nur zum Schein ist er dankbar für die neue Existenz, die ihm Amerika bietet. In Wahrheit kann er nicht ertragen, wie kläglich sie ist. Dafür hasst er das Land seiner Zuflucht. Und sich. Er hasst seine Schwäche, die Schwäche eines jüdischen Opfers. Der ehemalige Münchner Mathematiklehrer, ein Hegel-, Schopenhauer- und Marx-Kenner, verschanzt sich hinter seinem Hass und zwingt auch Anna und die drei Kinder hinter den vermeintlichen Schutzwall aus Ressentiments. Hass wird sein ultimativer Rückzugsort, von dort bezieht er Stärke und Sicherheit. Seinen Kindern sagt er:

"Gott stampft mit seinem großen Fuß auf, um uns auszumerzen. Und trotzdem gibt es einen Ausweg. Denkt daran, es gibt immer einen Ausweg: Wenn ihr euch klein machen könntet, wie ein Wurm."

Unterworfene Existenzen

Dieses väterliche Credo ist weniger eine Empfehlung als vielmehr ein Befehl. Eine Existenz als Wurm: Jacob tut alles dafür, dass seine Kinder die führen müssen. Die Söhne Hershel und August beschimpft er als debil, seiner Frau verbietet er jeden Umgang mit anderen Menschen. Und seiner Tochter Rebecca bläut er ein, nie eine Schwäche zu zeigen, denn, wie Jacob nie müde wird zu wiederholen: "Im Tierreich werden die Schwachen schnell ausgesondert."

Jacob Schwart, der seine Familie vor den Nazis gerettet hat, kann sie vor sich selbst nicht schützen. Nachdem er seine Söhne aus dem Haus gejagt hat, erschießt er seine Frau mit den Worten: "Anna, Sie kommen. Es ist Zeit." Dann tötet er sich. Nur Rebecca, die er für eine Amerikanerin, also das Gegenteil einer schwächlichen deutschen Jüdin hält, verschont er.

Geimpft mit dem Misstrauen ihres Vaters, aber auch voller Sehnsucht nach Liebe, beginnt Rebecca mit 17 ein Verhältnis mit dem viel älteren Frauenhelden und gewalttätigen Säufer Tignor, eine Art Widergänger von Jacob Schwart. Erst als er nicht nur sie, sondern auch den dreijährigen Sohn Niley halb tot schlägt, hat sie die Kraft, zu fliehen. Um sich und das Kind zu schützen, legt sie sich einen neuen Namen zu: Hazel Jones. In Amerika, einem Land voller Flüchtlinge mit ungewisser Herkunft, damals in den 50ern nichts Ungewöhnliches. Als alleinerziehende Witwe Hazel Jones kämpft sie um ihren Anteil am amerikanischen Traum.

Das Leben der Großmutter

Die Autorin Joyce Carol Oates während der Lesereise zu ihrem letzten Buch: "Ich sehe Menschen verbunden durch Träume und motiviert durch Träume, manchmal befriedigen sie ihre Träume, manchmal werden sie betrogen. Das ist Teil unseres Lebens. Die Träume sind real. Die Träume treiben Menschen voran. (...) Ich meine, es ist ja nicht so, dass jeder in Amerika scheitert. Ich glaube nicht, dass der amerikanische Traum zerbrochen ist."

Die 72-jährige Schriftstellerin und Creative-Writing-Professorin in Princeton, als Tochter eines Werkzeugmachers und einer Hausfrau selbst ein lebendiger Beweis dafür, dass der amerikanische Traum manchmal tatsächlich funktioniert, beschreibt in "Geheimnisse" das Leben ihrer geliebten Großmutter. Blanche Morgenstern unterstützte die Lust ihrer Enkelin an Geschichten, schenkte ihr Bücher von Lewis Caroll und mit 14 eine Schreibmaschine.

Trotz aller Innigkeit, die Vergangenheit der Großmutter galt in der Familie als Geheimnis, und zwar als eines, das man nicht versuchen durfte zu lüften. Geheimnisse jedoch sind so etwas wie das Grundnahrungsmittel für jeden Schriftsteller. Das bringt Oates auch ihren Studenten in den Schreibkursen bei, ein Nebenjob, den sie übrigens sehr schätzt: "Die meisten Schriftsteller haben eine masochistische Ader. Man muss lange auf Belohnung warten – manchmal vergeblich. Für mich ist das Unterrichten etwas Soziales. Es ist ein Weg, mit jungen Leuten zu arbeiten und ich liebe meine Studenten wirklich. Ich fühle mich ihnen sehr, sehr emotional verbunden. Zuhause zu bleiben und konzentriert zu schreien, das provoziert Ängste. Wenn ich mit den jungen Leuten arbeite, denke ich nie an mich. Ich kann mich zuhause miserabel fühlen, kann jede Menge Nervenzusammenbrüche haben. (...) Alle Schriftsteller haben morgens jede Menge Nervenzusammenbrüche, wussten Sie das nicht? Es passiert zwischen 9 und 10. Man macht dann einfach weiter. Wie Sisyphus, der seinen Stein den Hang hinaufrollt. Eine Weile bleibt der Stein oben, dann rollt er wieder runter. Aber dann gehe ich zur Universität und vergesse alle Steine und Hügel und Sisyphus."

Der Sohn im Mittelpunkt

So beschwerlich das Schreiben des neuen Romans auch gewesen sein mag, er liest sich - wie so viele Romane von Joyce Carol Oates - vollkommen mühelos. "Geheimnisse" ist eine schnelle, handlungsgetriebene Geschichte. Oates weiß, wie man Spannung aufbaut und die Neugierde des Lesers am Köcheln hält. Das gilt besonders für den zweiten Teil des Buches, in dem sie berichtet, wie Rebecca alias Hazel Jones sich eine neue Existenz aufbaut.

Hazels Leben kreist nun ausschließlich um den geliebten Sohn. Auch er bekommt einen neuen Namen, Zack, nach seinem Lieblingsmusikmoderator im Radio. Hazel ist eine Überlebenskünstlerin, die schnell lernt, Misstrauen und Groll aus ihrem Gesicht zu verbannen, und stattdessen die arglos freundliche Miene eines All-american-girl aufzusetzen.

Die Maskerade ist ein Erfolg. Sie bringt ihr Sympathie, lukrative Jobs und ihrem musikbegabten Jungen Stipendien für den Klavierunterricht. Auch eine Beziehung zu dem begüterten Jazz-Pianisten Chet Gallagher knüpft sie in erster Linie an, um ihrem Sohn bessere Chancen zu bieten. Ihre eigenen Gefühle für den Mann, der sie unbedingt heiraten will, hält sie lange für suspekt. Denn Hazel meint, eines ganz gewiss fürs Leben gelernt zu haben: Liebe ist eine Falle, eine unverzeihliche Schwäche.

Anfang und Ende

"Geheimnisse" ist ein Roman, in dem Joyce Carol Oates erstmals einen wichtigen Teil ihrer Familiengeschichte erzählt. Sie hatte ihn bereits im Jahr 2000 fertiggestellt. Ihre amerikanischen Verleger entschieden jedoch, dass erst andere Romane mit aktuelleren Themen erscheinen sollten. Joyce Carol Oates ist eine äußerst produktive Schreiberin und hatte einige in petto, obwohl sie sich bei ihrer letzten Lesereise scherzhaft beklagte: "Ich brauche jedes Mal Jahre, bis ich mit einem Roman beginne, weil sich Tausende Seiten mit Notizen angesammelt haben. Ich ermutige meine Studenten immer, einen Schluss zu haben. Wenn man Anfang und Ende hat, braucht man nur noch das in der Mitte zu schreiben. Das ist einfach - 600 Seiten."

Trotzdem: Die 72-jährige Joyce Carol Oates hat auch nach ihrem Roman "Geheimnisse" keine schriftstellerische Atempause eingelegt. Seit Erscheinen des Buches 2007 in den USA hat sie bereits drei weitere Romane geschrieben.

Stimmiges Psychogramm

"Geheimnisse" ist keiner dieser Romane mit einer hochgradig verdichteten, bildmächtigen, poetischen Sprache, in denen manche Sätze wie Solitäre strahlen. Dazu ist die Handlung zu rasant und auch zu schrill. Aber "Geheimnisse" ist das stimmige, fesselnde Psychogramm eines Mädchens, das sich aus dem Trauma des ungeliebten Kindes in ihren Traum vom guten Leben empor arbeitet. Oates schildert die Häutungen einer Frau, die nicht mehr Platz einnehmen sollte als ein Wurm und die es trotz aller Widrigkeiten und Schicksalsschläge schafft, sich das Recht auf ein eigenes Leben zu erkämpfen.

Mag sein, dass das wie eine Schmalz-Geschichte aus der Traumfabrik in Hollywood klingt, aber manche Träume sind tatsächlich veritable Kraftspender. Und das ist der Roman "Geheimnisse" von Joyce Carol Oates auch.

Service

Joyce Carol Oates, "Geheimnisse", aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz, S. Fischer Verlag

S. Fischer - Joyce Carol Oates