Eine Expedition durch das Zimmer

Reisender Stillstand

Sommerzeit ist bekanntlich Reisezeit. Man kann allerdings auch verreisen, ohne wegzufahren. Von Expeditionen durch die eigene Alltagswelt erzählt Bernd Stiegler in einer "Kleinen Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum".

Die erste Reise

Animiert von Schriftstellern wie Baudelaire, Borges oder de Maistre untersucht der deutsche Literaturwissenschaftler Stiegler die ganz eigentümlichen Erfahrungen, die man machen kann, wenn man unterwegs ist, ohne sich fortzubewegen.

Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter dem fünfundvierzigsten Breitengrad; seine Lage zeigt von Osten nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechsunddreißig Schritt im Umfang hat. Meine Reise wird jedoch deren mehr enthalten; denn ich werde in ihm oft ohne Plan und ohne Ziel hin und her und diagonal wandern.

Der französische Lebemann Xavier de Maistre wird im Frühjahr 1790 wegen eines verbotenen Duells zu sechs Wochen Hausarrest verurteilt. Er macht aus seiner unerquicklichen Situation das Beste und startet zu einer fantastischen Reise, einer Reise durch das eigene Zimmer.

Der danach unter dem Titel "Voyage autour de ma chambre" veröffentlichte Text feiert ungeahnte Erfolge, begründet ein völlig neues Genre der Literatur und findet zahlreiche Nachahmer. Ganz Europa ist zu dieser Zeit wie besessen von den Erzählungen berühmter Reisender.

Die Entdeckung des Besonderen

De Maistres knapp 100-seitiges Buch ist voller ironischer Anspielungen auf diese Expeditionen. Der Witz dabei: Er beschreibt nichts anderes, als die ganz normalen Dinge seines durch und durch gewöhnlichen Haushaltes: das Bett, den Lehnstuhl, die Bilder an der Wand, die Bibliothek und anderes, das ihn tagtäglich umgibt.

Er erzählt in loser Folge von Momenten des Alltags mit seiner Geliebten, seinem Diener oder seinem Hund. Er erkennt, dass die Kunst des Reisens nicht unbedingt mit exotischen Zielen zu tun haben muss, sondern mit der Entdeckung des Besonderen. Das eigene Zimmer ist für ihn eine "paradiesische Gegend, die alle Güter und Schätze der Welt in sich hat".

Einzigartiger als Magellan

Grundbedingung für die Verwandlung des Banalen ins Besondere ist dabei der "fremde Blick", der alles verwandelt, ohne zu verändern. Einen weiteren klaren Vorteil der ungewöhnlichen Zimmerreisen entdeckt de Maistre, nicht ohne ironischen Unterton, in ihrer Einzigartigkeit.

Im Vorwort der Neuausgabe im Jahre 1812 schreibt er, dass die berühmten Reisen von Magellan, Drake oder Cook ja jederzeit wiederholt werden könnten, weil man nur den gestrichelten Linien ihrer legendären Fahrten folgen müsste.

Anders verhält es sich mit der 'Voyage autour de ma chambre'. Sie ist ein für alle Mal gemacht und kein Sterblicher kann sich dessen rühmen, sie noch einmal anzutreten; umso mehr als die Welt, in der sie sich abspielte, nicht mehr vorhanden ist.

Historie mit 21 Etappen

Während de Maistres Zimmerreise binnen kürzester Zeit zum Bestseller wird und noch heute zu den beliebtesten französischen Klassikern gehört, muss man die zahlreichen Nachahmer erst mühsam aus dem Dunkel des Vergessens befreien.

Dem Konstanzer Literaturprofessor Bernd Stiegler ist nicht nur diese Arbeit hoch anzurechnen, sondern vor allem die übersichtliche und liebevolle Art, wie er die Geschichte des Zimmerreisens erzählt.

Mehr oder weniger chronologisch führt der Weg in 21 Etappen sowie einem kurzen Exkurs über Jules Vernes "Reise um die Erde in achtzig Tagen" von den Anfängen im späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Mit verfremdetem Blick

Doch was kann man auf einer Zimmerreise tatsächlich entdecken? Am besten stellt man sich vor, was man beim Übersiedeln oder Entrümpeln empfindet. Man nimmt Gegenstände des Alltags ganz bewusst in die Hand, denkt über deren Geschichte nach und entscheidet schließlich, ob das Objekt der Betrachtung auch in Zukunft einen Platz im Leben haben soll oder nicht.

Dabei wirft man, so Stiegler, einen verfremdeten Blick auf sich selbst. Genau darum geht es bei der Zimmerreise, erklärt Stiegler:

Vermeintlich bekannte Räume verfremden, sie mit dem dergestalt eingesetzten Blick eines Ethnologen in Augenschein nehmen und sie so zu erkunden, als handle es sich um einen Raum, den man zu ersten Mal betritt oder zumindest mit neuen Augen sieht.

Vom Reiseführer zur Parodie

Frühe Zimmerreisen stehen noch tief in der Tradition klassischer Reiseführer. Da wird die Beobachtung einer unscheinbaren Spinne zu einer bizarren Safari unter und hinter sperrigem Mobiliar; der Efeu, der an der Hauswand hoch wächst, wird zum mystischen Dschungel verklärt und die Holzart eines Fensterrahmens einer eingehenden naturwissenschaftlichen Untersuchung unterzogen.

Die parodistischen Texte werden mit der Zeit immer absurder. Während der eine von einer Reise durch seine Tasche berichtet, beschreibt ein anderer eine Expedition durch seinen Garten.

Durchquerungen der Nähe

Zimmerreisen müssen nicht zwangsläufig in einem Zimmer stattfinden, moderne Interpretationen etwa der französischen Künstlergruppe Ici-Même heißen "Durchquerungen der Nähe". Bei der K2-Expedition wird beispielsweise auf dem Stadtplan einer x-beliebigen Stadt das Planquadrat K2 herausgehoben und intensiv erforscht.

Beim Supertourismus steht der Supermarkt im Zentrum der reisenden Feldforscher. Gegenstände einer bestimmten Farbe oder Form werden erworben und danach fotografiert und katalogisiert.

Wiederentdeckung des Flanierens

In all den von Stiegler gesammelten und kurzweilig beschriebenen Beispielen tun sich unendliche Weiten der Nähe auf. In diesem reich illustrierten Reiseführer trifft man auf viele Bekannte wie Baudelaire, Kierkegaard, Handke oder Robbe-Grillet, aber auch weniger präsente Reisende.

Die Kunst des Zimmerreisens entpuppt sich letztlich aber nicht nur als Reise ins Ich, sondern auch als Wiederentdeckung des Flanierens. Denn wer durch seine Zimmerwelten hetzt, wird kaum Neues sehen. Das wusste schon der deutsche Schriftsteller Franz Hessel:

Und nun, liebe Mitbürger, haltet mir nicht vor, was ich alles Wichtiges und Bemerkenswertes übersehen habe, sondern geht selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen Entdeckungsreisen des Zufalls.

Service

Bernd Stiegler, "Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum", S. Fischer Verlag

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