Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene

Verirren

Das Verirren hat ein denkbar schlechtes Image: Es gilt als zeitraubend, bedrohlich und peinlich. Dabei ist das Verirren weit besser als sein Ruf, viele Entdeckungen wären nicht erfolgt, wenn sich die Forscher nicht verirrt hätten. Nun gibt es einen Ratgeber für entwöhnte Großstadtmenschen.

Verirren als Freizeitbeschäftigung, ob vor der eigenen Haustüre oder im nächstgelegenen Gebirge, das mag auf den ersten Blick absurd klingen, doch wer die Kunst des Herumirrens beherrscht, spart Geld für teure Abenteuertrips in die Arktis, entflieht dem strengen Zeitregiment durchgeplanter Urlaube und sieht schlichtweg mehr von der Welt, schreiben Kathrin Passig und Aleks Scholz. Denn wer sich verirrt, anstatt einfach nur stur dem Reiseführer nachzutrotten, betrachtet die Umgebung, über die er praktisch nichts weiß, wie mit einer Lupe. Und er entwickelt so die Fähigkeit, selbst in den scheinbar trostlosesten Gegenden Interessantes zu finden. Der erste und wichtigste Schritt zu diesem Erlebnis ist ganz einfach: Man muss nur Abschied von der Karte nehmen.

Das kostet am Anfang etwas Überwindung, vergleichbar mit dem Abmontieren von Stützrädern am Fahrrad oder dem ersten Mal im tiefen Wasser ohne Schwimmflügel. Und ähnlich wie beim Radfahren und beim Schwimmen wird es beim ersten Mal nicht sofort klappen. Der Anfänger wird sich in schwachen Momenten die Karte zurückwünschen. Er wird zeitweilig seine Entscheidung verfluchen, zum Beispiel dann, wenn ihm andere von all den Sehenswürdigkeiten vorschwärmen, die sie am Urlaubsort besichtigt haben, während er vorwiegend in Industriegebieten und Vorstädten herumgeirrt ist. Aber es wird sich am Ende auszahlen.

Die Kunst des Zurückfindens

Mit Hilfe von unzähligen Fallgeschichten und Anekdoten, die vom eigenen harmlosen Verlaufen bei den Niagarafällen bis hin zu Berichten von lebensgefährlichen Verirrungen im australischen Outback reichen, erzählen Kathrin Passig und Aleks Scholz von den vielen Möglichkeiten des In-die-Irre-Gehens - und von den Strategien, wie man wieder zurückfindet. Denn das Markenzeichen einer jeden guten Verirrung ist die eigenständige Rückkehr auf sicheres Terrain.

Anfängern empfehlen die beiden Redakteure des Weblogs "Riesenmaschine" zum Training dicht besiedelte Gegenden und Städte, wo man das Verirren jederzeit problemlos abbrechen kann, indem man einfach nach dem Weg fragt. Fortgeschrittene dürfen sich bereits in dünner besiedelte Regionen wie die schottischen Highlands vorwagen, wo man schon einmal ein paar Tage allein durch den Nebel irren kann, ohne auf ein Haus zu stoßen. Wenn sich dann zum ersten Mal existenzielle Fragen stellen wie "Was mache ich hier eigentlich?", "Wie bin ich hierher gekommen?", "Wer hatte diese bescheuerte Idee?" und "Wie, verdammt noch einmal, komme ich hier wieder weg?", dann ist man mitten in der fortgeschrittenen Phase des Verirrens angelangt.

Spätestens hier lautet die Losung "be here" - "hier zu sein" statt "hier raus zu wollen". Präsent zu sein, die innere Karte, die man der Welt übergestülpt hat, zu verwerfen, sich in Ruhe auf den Ort und seine Eigenheiten einzulassen.

Genau diese erhöhte Wachsamkeit macht für Kathrin Passig und Aleks Scholz den eigentlichen Reiz des Verirrens aus - und sie kann im Notfall auch Leben retten. Denn manchmal kann es für den Verirrten klüger sein, einfach sitzen zu bleiben, als sich immer weiter zu verirren. Das zeigt auch das Beispiel eines britischen Journalisten, der in einer dunklen Winternacht in den Bergen von Wales aus dem Schlafsack steigt, um zu pinkeln, und anschließend nicht mehr zurück zu seinem Nachtlager findet. Er verharrt still am Platz und grübelt über sein Schicksal - bis zufällig das Handy in seinem Rucksack läutet und ihm knapp vor dem Erfrieren den Weg zurück weist.

Kein Verlass auf das Gehirn

War das ursprüngliche Ziel der beiden Autoren, schlicht ein Loblied auf das Verirren zu schreiben, so verwandelt sich ihr Buch, je weiter man in die Mitte vordringt, immer mehr zu einer allgemeinen Betrachtung zum Thema Orientierung. Eingestreut in die humoristischen Anleitungen zum Herumirren findet sich allerlei Wissenswertes über die Geschichte des Verirrens und die Entwicklung der Navigationstechniken am Land, auf der See und in der Luft, über die psychologischen Grundlagen der Orientierungslosigkeit und die Streiche, die das Gehirn dabei spielt.

Der innere Kartograph ist ein heimlicher Weltverbesserer. Häufig geht er davon aus, die Karte sei besser ausgedacht, logischer und rechtwinkeliger, als sie tatsächlich ist. Wenn Versuchspersonen aus dem Gedächtnis Skizzen ihrer Stadt zeichnen sollen, begradigen sie krumme Straßen und machen Kreuzungen rechtwinkeliger, als sie sind.

Um- und Irrwege

Mit der Zeit sind es fast zu viele unterschiedliche Geschichten und Anekdoten über das Orientieren und das Verirren, die hier aneinandergereiht werden. Es beginnt der ursprüngliche Witz des Projekts, das Umherirren zu rehabilitieren, an Originalität nachzulassen, die Pointen werden schwächer. Dennoch bleibt "Verirren - eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene" ein leichtfüßig geschriebenes und munteres Buch, das überzeugend argumentiert, dass professionelles Verirren Ähnlichkeiten mit Wissenschaft aufweist - geht es doch in beiden Fällen darum, das eigene Unwissen für eine Zeit lang ertragen und Rätsel aushalten zu können.

Trotz aller Vorzüge ist ständiges Verirren allein aber keine tragfähige Existenzform, räumen Kathrin Passig und Aleks Scholz zu Ende ihres Buches ein. In der Kunst der Weg- und Zurechtfindung gehe es vielmehr darum, Verirren und Orientierung gut auszubalancieren - und zu erkennen, dass die Übergänge zwischen diesen beiden Polen oft fließender sind, als wir uns eingestehen wollen.

Sieht man genauer hin, dann überlagern sich auch in der Landschaft wohlausgedachte Wege auf unordentliche Weise mit Um- und Irrwegen. Im frisch gefallenen Schnee kann man den Spuren der Schneehasen folgen, weil unter ihnen oft die Spuren der Menschen liegen. Wählt der Schneehase diesen Weg, weil der alte Schnee darunter etwas festgetretener ist und der Hase nicht bis zu den Ohrenspitzen einsinkt? Oder liegen unter den Spuren der Menschen wiederum die der Hasen, weil der Mensch im Sommer den Hasenrennbahnen im Gras folgt - vielleicht im Glauben, es handle sich um gerade noch erkennbare Pfade? Wer folgt wem? Am Ende gehen wir vermutlich viele Wege auf den Spuren Ahnungsloser, die den Spuren Ahnungsloser folgen.

Service

Kathrin Passig, Aleks Scholz, "Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene", Rowohlt

schience.ORF.at - Mit vier Fragen an die Grenzen des Wissens
Bachmannpreis - Kathrin Passig
Rowohlt - Verirren
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