Brasilia, Stadtikone der Moderne

Utopie im Alltag

Auf der Fahne Brasiliens steht: "ordem e progresso" - Ordnung und Fortschritt. Das meinte vor allem: Eine gerechte Gesellschaft in einer modernen Welt. Der Bankdirektor sollte neben seinem Chauffeur im selben Block leben. Doch wie sich wenig später erwies, hinkt die Realität der Utopie gehörig hinterher.

Riesige Wohnblöcke

Eine kleine gekachelte Kapelle mit geschwungenem Dach, umgeben von riesigen Bäumen, Grünflächen, einem Sportplatz, spielenden Kindern. Die Igrejinha, eines der ältesten Gebäude der Stadt, liegt im "historischer Kern" sozusagen, an der Südachse SQS 409 zwischen W1 und W3, wie die Adressen in Brasilia so romantisch heißen. Neben den Villen am See gehören die Wohnblöcke an der W3 zu den begehrtesten Adressen - lauter streng in riesigen Rechtecken angeordnete Plattenbauten, aber was für welche! Ein Kernanliegen des Chef-Planers von Brasilia Lucio Costa.

"15 bis 16 Wohnblöcke, mit viel Grün dazwischen. Es gibt nur einen Eingang und einen Ausgang, was verhindert, dass viele fremde Menschen durchgehen", sagt Nicolas Behr. Er lebt seit mehr als 30 Jahren in Brasilia und kommentiert als Stadtschreiber und Stadtaktivist die Entwicklung dieser besonderen Metropole in Gedichten oder bissigen Kommentaren in der Zeitung, je nach Situation.

Höfe fast wie Parks

Brasilia ist vielleicht der einzige Ort der Welt, wo Menschen viel Geld zahlen, um in so einem Häuserblock, gebaut nach den rigiden Gesetzen der Moderne, leben zu können. In Städten des kommunistischen Osteuropa etwa ist dieses Modell ja exemplarisch gescheitert. Was ist in Brasilia anders? Die geringe Dichte: Die Höfe sind riesig, beinahe kleine Parks; die üppigen südamerikanischen blühenden Bäume sind bereits höher als die siebenstöckigen Gebäude; die Wohnungen sind klug aufgeteilt. Die Gebäude an sich: gepflegt, luftig, einladend, schön.

"Brasilia hat gezeigt, dass moderne Architektur auch schön sein kann", sagt Behr. "Das ist der große Beitrag Niemeyers zur Weltarchitektur: Vor Brasilia galt die moderne Architektur als hässlich, mit Brasilia hat er gezeigt, dass sie auch schön sein kann."

In nur drei Jahren entstanden

In den späten 1950er Jahren wurde Brasiliens lang gehegter Traum nach einer neuen Hauptstadt im Landesinneren, dem geografischen Zentrum des riesigen Landes Wirklichkeit. Der so tatendurstige wie charismatische brasilianische Staatspräsident Juscelino Kubitschek wusste, er hatte nicht viel Zeit, fünf Jahre, eine Legislaturperiode.

Und so folgte, was heute, da der Bau eines einzigen öffentlichen Gebäudes oft länger als ein Jahrzehnt dauert, wie ein modernes Märchen klingt: Kubitschek gelang es, ganz Brasilien zu mobilisieren, ja zu euphorisieren und in nur drei (!) Jahren eine neue Hauptstadt mitten in die zentralbrasilianische Savanne zu stellen. Dafür ins Boot geholt hat er den Architekten und Stadtplaner Lucio Costa und dessen genialsten Studenten, Oscar Niemeyer - heute 102 Jahre alt.

Mitten im Nichts

45.000 Arbeiter aus dem ganzen Land kamen in die Provinz Goiás, zur größten Baustelle des Landes, um an diesem Wunder mitten im Nichts mitzubauen. Die nächste Eisenbahnstation lag 125 Kilometer weg, der nächste Flugplatz 190 Kilometer und die nächste befestigte Straße 640 Kilometer! Ein verrücktes Unternehmen.

"Nichts, nichts, nichts hat es hier in Brasilia gegeben", so Geraldo Zacarias, genannt Gege. Er war ein Vorarbeiter der ersten Stunde und er ist jetzt über 80. "Alles kam von außerhalb: das Bauholz, die Werkzeuge, zuerst mit dem Flugzeug, dann hat man langsam Straßen gebaut und alles wurde im Lkw hergebracht."

Ein freier Tag im Monat

Rund um das "Plano Piloto" genannte Zentrum Brasilias entstanden Barackensiedlungen, in denen alle Sprachen und Dialekte des Landes gesprochen wurden, die typischen Speisen aus allen Regionen Brasiliens gekocht wurden - ein wahrer Schmelztiegel, würdig einer zukünftigen Hauptstadt. Nur zum Ausruhen oder zum Vergnügen sind die Arbeiter kaum gekommen.

"Es ging alles sehr schnell. Wir haben auch durchgearbeitet, Tag und Nacht", so Gege. "Es gab keine freien Tage, keinen Urlaub. Wir wollten auch nicht zu arbeiten aufhören. Wir haben viel Geld verdient. Und dann einmal im Monat, am letzten Tag, haben wir frei gehabt."

Das konnte nicht ohne Opfer gehen. Vollkommene Übermüdung und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen führten zu zahllosen Todesfällen, über die die Regierung damals wie heute gerne schweigt. Vor allem, weil das Wunder gelingt. In nur drei Jahren konnte Juscelino Kubitschek, auch liebevoll und lässig JK genannt, am 21. April 1960 die neue Hauptstadt Brasilia einweihen.

Am Aufbau teilhaben

"Meine Eltern sind der Utopie wegen gekommen", erinnert sich die Anthropologin Ana Gita de Oliveira. "Viele Leute kamen damals wegen dieser verlockenden Idee des Neuen, diesem von Null anfangen können; wegen der Möglichkeit, am Aufbau von etwas ganz Neuem teilhaben zu können. (...) 1964 gab es dann allerdings den Militärputsch und es begann die Zeit der Diktatur - viele der Freunde meiner Eltern mussten ins Exil gehen, die gerade gegründete Universität hat schwer gelitten, weil die ganze Intelligenz vertrieben wurde."

Brasilia erleidet damit einen ersten Rückschlag. Die Stadt wächst zwar und Oscar Niemeyers Gebäude werden zu Postkartenmotiven: sein Kongressgebäude aus zwei Türmen und zwei riesigen Schalen, seine Kathedrale, die ausschaut, als hätte man Holz für ein riesiges Osterfeuer gebündelt, sein Präsidentenpalast, seine Ministerien, seine, seine, seine... Jedes Gebäude eine Ikone der Architektur des 20.Jahrhunderts. Aber der Meister selbst, bis heute bekennender Kommunist, verlässt das Land, JK wird all seiner politischen Ämter beraubt und stirbt in den 1970er Jahren bei einem dubiosen Verkehrsunfall.

UNESCO-Weltkulturerbe

Als sich Brasilia in den 1980er Jahren zu einer ernstzunehmenden Großstadt entwickelt hatte, konnte sich auch die Diktatur nicht mehr länger halten. Und auch die eine oder andere Kritik gegenüber den Gründervätern wurde laut: unmenschlich seien die riesigen Betonplätze, die Niemeyer geschaffen habe, wie etwa der "Platz der drei Gewalten" vor dem Kongress - kein lauschiger Ort für Stadtflanierer.

"Ein Platz muss frei sein, ohne Bauten", so Niemeyer. "Nur so kann man die Gebäude gut sehen, die Relation zwischen den Gebäuden und die Bedeutung des Platzes. Aber in Brasilia höre ich oft die Klage: Warum hat der Platz der drei Gewalten keine Vegetation? Dann muss ich immer erklären: Das ist ein Platz, der die Architektur hervorhebt!"

Brasilias Innenstadt, der von Costa entworfene und von Niemeyer ausgeführte Plano Piloto, ist mittlerweile zur Gänze von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden, übrigens als einziges Stadtensemble des 20. Jahrhunderts.

Kein Platz für Arme

Brasilia ist eine Stadt der Ober- und Mittelschicht, für die Arbeiter und die Armen gibt es keinen Platz, denn die drei Gründerväter waren einem fundamentalen Irrtum aufgesessen: Sie hatten erwartet, dass die vielen Arbeiter, die gekommen waren, um Brasilia aufzubauen, nach getaner Tat wieder in ihre Dörfer zurückkehren würden. Das Gegenteil war der Fall. Immer mehr Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt mit ihrem reichen Jobangebot. Das bringt Probleme.

Die österreichische Architektin Ditia Edalati, die in Brasilia recherchiert hat, schreibt:

...diese Einwohner konnten sich aber den Typus der teuren Wohnungen in den Wohneinheiten des Plano Piloto, den Superquadras nicht leisten. Nachdem es im Gebiet des Plano Piloto nicht erlaubt war, andere Wohntypologien als die von Costa vorgeschlagenen zu erbauen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Häuser in eigenständiger Art und Weise zu improvisieren und sich illegal in der Umgebung niederzulassen.

Natürlich sind heute genau diese Satellitenstädte das Problem. In den 30 Städten, die Brasilia jetzt in gebührendem Abstand umgeben, leben circa 1,8 Millionen Menschen, während im Plano Piloto, wie das Zentrum von Brasilia nach wie vor heißt, nicht mehr als 700.000 Menschen Platz finden. Kriminalität und Drogenprobleme gehören dort zur Tagesordnung - auch wenn Brasilia in Brasilien noch zu den sichereren Städten zählt.

Angekratztes Ideal

Es gibt keine sichtbare Armut in Brasilia, keine Bettler. Alles ist ordentlich, sauber und proper - beinahe eine ideale Stadt, hätte sie ihre Probleme nicht einfach nach draußen gekehrt. Dabei gab es ursprünglich schon dieses Ideal der sozial gerechten Stadt und aus Erzählungen weiß man, dass in den Anfangsjahren durchaus der Chauffeur in der gleichen Superquadra gelebt hat wie der Bankdirektor - das war allerdings noch zu einer Zeit, da alles Land und alle Immobilien dem Staat gehört haben. Sie sind längst privatisiert und die Chauffeure und die Köchinnen und das ganze Heer der Dienstleister wohnt draußen - ganz weit weg.

Nicolas Behr, als Dichter und Aktivist, genauer Beobachter meint: "Das Problem aus meiner Sicht ist: Sie wollten eine sozialistische Stadt in einem kapitalistischen Land errichten. Sie haben irgendwie vergessen, dass da ein gewisses Brasilien noch involviert ist. Und heute erlebt Brasilia diesen Schock mit der brasilianischen Wirklichkeit."

Brasilia ist eine Stadt, in der es sich gut leben lässt, wenn man das nötige Kleingeld hat - aber ist das nicht überall so? Was gelitten hat, ist das Ideal und das lässt sich eben am Reißbrett besser umsetzen als im wirklichen Leben.