Widerstandskämpferin und Galionsfigur

Sophie Scholl

Barbara Beuys widmet Sophie Scholl auf der Basis vieler bisher unveröffentlichter Dokumente ein akribisch recherchiertes Zeit- und Charakterbild. Auf knapp 500 Seiten lässt Beuys das 21 Jahre kurze Leben der wohl berühmtesten Widerstandskämpferin gegen Hitler Revue passieren.

Pamphlete gegen Hitler

" (...) verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, (...) ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist", hieß es im ersten Flugblatt. "Trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum!", forderte ein anderes Papier. "Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe!" Zitate aus den Flugblättern der "Weißen Rose", jener Münchner Widerstandsgruppe gegen Hitler, die zwischen Juni 1942 und Februar 1943 insgesamt sechs solcher Pamphlete verfasste, vervielfältigte und unter Lebensgefahr verteilte.

"Die Weiße Rose" - das waren neben dem Universitätsprofessor Kurt Huber die Studenten Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell sowie Hans Scholl und dessen Schwester Sophie, die jüngste der Gruppe und die einzige Frau.

"An Sophie Scholl hat mich fasziniert, dass es eigentlich über sie keine wirkliche Biographie gibt", erzählt Barbara Beuys. "Die meisten Zuhörer werden denken, da wissen wir doch alles. Ich glaube, die Bilder der Filme haben sich bei uns sehr ins Gehirn gesetzt - die erzählen aber immer nur die letzte Woche. Und alles andere ist 'Weiße Rose'. Über sie selber gibt es nur den Klassiker von Inge Aicher-Scholl, 'Die Weiße Rose', 1952 erschienen, wo Sophie Scholl auch vorkommt. Aber das hat eine Schwester geschrieben, die sehr verwickelt ist emotional."

"Das Entscheidende ist, dass Inge Aicher-Scholl Zeit ihres Lebens - sie ist 1998 gestorben - hunderte, ja tausende von Dokumenten gesammelt hat, Briefe, Zeugnisse, Reisepässe, aber nur ganz kleine Bröckchen herausgegeben hat", so Beuys. "Den allergrößten Teil hat sie erst nach ihrem Tod freigegeben, der liegt im Institut für Zeitgeschichte in München. Und den gibt es erst einsehbar seit 2005. Und ich bin die erste, die alle diese Briefe und Dokumente im Blick auf eine Biographie durchgearbeitet hat."

Eine außergewöhnliche Familie

Sophie Scholls Biographie ist eine Biographie mit Widersprüchen - was bei einer Sozialisation zwischen nationalsozialistischem Taumel und christlich-liberaler Erziehung nicht wirklich verwundern muss. Geboren am 9. Mai 1921 in der süddeutschen Provinz als viertes von insgesamt fünf Kindern, war Sophie stark von den Prinzipien ihrer Eltern geprägt. Waren für die Mutter, eine ehemalige Diakonissin, Glaube und Demut wichtig, so sah sich der Vater, zehn Jahre jünger als die Mutter, weniger der Konfession als der Vernunft verpflichtet. Ein ungleiches Paar, geeint durch einen unverbrüchlichen Humanismus und ein starkes Selbstwertgefühl.

"Ich finde, es ist eine außergewöhnliche Familie, die nicht dem Klischee entspricht". erzählt Beuys. "Einerseits die Mutter, protestantisch-pietistisch, aber dann auch fröhlich und nüchtern und sehr tolerant gegenüber dem eigenen Mann, der nicht an Gott glaubt. Was sie voran treibt, ist der Wille, aus ihrem bäuerlichen kleinbürgerlichen Milieu aufzusteigen. Das gelingt ihnen auch. Sie sind dann in Ulm richtig Großbürger. Und was sie ihren Kindern mitgeben, das hat sehr viel mit bürgerlichen Idealen zu tun. Es ging um Freiheit, es geht aber auch darum, etwas für die anderen zu tun, Großes zu leisten für die Menschen."

Von Mitläufern zu Opponenten

Und Großes leisten, das wollten die Geschwister Scholl, und sie wollten es zunächst in der Hitler-Jugend - zum Entsetzen ihrer Eltern. Sophie Scholl trat mit zwölf Jahren in den Bund Deutscher Mädchen ein, brachte es bis zur Scharführerin und nahm bis 1941 regelmäßig an den BDM-Heimatabenden teil.

Ihre nationalsozialistische Begeisterung teilte auch ihr zweieinhalb Jahre älterer Bruder Hans, der eine Führungsposition im Jungvolk übernahm und eine Kohorte von Schülern in der bündischen Jugend anführte. Es waren die Rituale und Gemeinschaftserlebnisse, die die Scholls für die Nazi-Jugendbewegung einnahmen - und für den Führer. Wann und wodurch aus Mitläufern Opponenten, aus Hitler-Verehrern Nazi-Gegner wurden, lässt sich laut Beuys nicht eindeutig beantworten.

"Ich muss leider sagen, es gibt nicht diesen einen Punkt und das Bekehrungserlebnis bei Sophie Scholl und den anderen, wo man sagen, kann, das war's", erklärt Beuys. "Es muss Gespräche gegeben haben ab 1938, auch mit dem Vater, wo man sich angenähert hat. Und sichtbar und festzumachen wird Sophie Scholls geistiger Widerstand, sobald der Krieg beginnt. Da zeigt sie, dass sie diese Politik nicht unterstützt beziehungsweise alle in ihrem Bekannten- und Freundeskreis auffordert, dagegen zu sein."

Kontaktaufnahme mit der "Weißen Rose"

Nach einer Ausbildung zur Kindergärtnerin und Einsätzen beim Reichsarbeits- und Kriegshilfedienst immatrikulierte sich Sophie Scholl im Juni 1942 an der Universität München in Biologie und Philosophie. Dort lernte sie Hans Scholls Kommilitonen und Mitstreiter in der "Weißen Rose" kennen.

Schockiert von den Judenverfolgungen und den Vorgängen an der Front, die Brutalität und Aussichtslosigkeit des Krieges vor Augen, schloss auch sie sich der Widerstandsbewegung an. Schon vorher bekannte sie in einem Brief, dass es sie danach drängte, durch "ein äußeres Tun das in mir zu verwirklichen, was bisher nur als Gedanke, als richtig Erkanntes in mir ist“.

"Sie wird dann im November 1942 und dann im Januar 1943 aktiv, als die zweiten Aktionen laufen. Da ist sie die einzige Frau in dem Männerbund. Und nur dank des Einsatzes von Hans Scholl, die anderen drei, Graf, Schmorell und Probst, sind eigentlich dagegen. Aber sie darf dann mittun. Und sie hat die erste Aktion der Flugblattverbreitung Ende Januar", erzählt Beuys. "Das war höchstbrisant - wenn sie aufgeflogen wäre, wären alle anderen mit aufgeflogen. Das heißt sie hat eine wichtige Rolle, sie tritt aber nach außen immer als bescheiden auf, sie diskutiert nicht mit. Ich bin der Meinung, dass sie im Hintergrund sehr wohl mit Hans diskutiert hat. Sie war sehr politisch, fast noch politischer als er. Aber das lässt sich nicht beweisen. Das muss man einfach sagen."

Lebenslustige, nachdenkliche Frau

Barbara Beuys zeigt Sophie Scholl als lebenslustige, aber auch als nachdenkliche Person, als junge Frau von burschikosem Äußeren, die gern zeichnete und musizierte, die rauchte und wild tanzte und mit einer Freundin durch die Lande trampte - die aber auch ernst, still und streng wirken konnte. Eine gläubige Protestantin, die Trost in der Religion fand, die sich für die Schriften des Kirchenvaters Augustinus begeisterte - und, vor allem in ihren letzten Monaten, über Lethargie und innere Leere klagte und dennoch immer wieder neuen Lebensmut fasste.

"Das ist ja das Faszinierende, dass sie beides in sich verborgen oder dann auch entdeckt hat - während der Hans Scholl eher so ein Draufgänger war und immer fröhlich. Aber sie hat beides in sich vereint", sagt Beuys. "Die Ängste und die Leere, die sie in den Wochen vor dem Tod gefühlt hat - ich glaube, es ist ein Zeichen, dass sie wusste, 'es kann schief gehen, was wir hier tun'. Nicht, dass es sie das Leben kosten wird, aber dass es ganz gefährlich für sie sein wird. Und dass es das, was sie sich erhofft, nämlich eine Zukunft in Freiheit, dass es das möglicherweise nicht geben wird."

Letzter Appell an Freiheit und Ehre

"Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes" - so endete das sechste und letzte, an Freiheit und Ehre appellierende Flugblatt der "Weißen Rose". Es wurde der Gruppe zum Verhängnis.

Mit einem Koffer und einer Aktentasche voller Flugblätter betraten am 18. Februar 1943 Hans und Sophie Scholl die Münchner Universität. "In meinem Übermut oder meiner Dummheit", so Sophie Scholl später, "habe ich den Fehler begangen, etwa 80 bis 100 solcher Flugblätter vom 2. Stockwerk der Universität in den Lichthof herunter zu werfen." Der Hausmeister beobachtete sie dabei, die Gestapo kam und verhaftete die Geschwister Scholl.

In Stadelheim wurde ihnen der Prozess gemacht, Roland Freisler persönlich, der Präsident des Volksgerichtshofs, genannt "der Henker", leitete ihn. "Wehrkraftzersetzung", "Feindbegünstigung" und "Vorbereitung zum Hochverrat" lautete die Anklage, Tod durch das Fallbeil der Schuldspruch. Am 22. Februar 1943 wurde er vollstreckt. "Es lebe die Freiheit!", rief Hans Scholl, bevor er das Haupt auf den Block legte. "Freiheit. FREIHEIT" schrieb Sophie, einen Tag vor ihrer Hinrichtung, auf die Rückseite ihrer Akte.

"Sie wollten ja nicht Hitler beseitigen. Das ist ganz eindeutig. Sie wollten Menschen aufrütteln - da haben sie sich geirrt", sagt Beuys. "Es hat auf diese breite Flugblattaktion keinerlei Reaktion gegeben. Andererseits, die politische Lage war im Januar, Februar 1943 so, dass auch andere geglaubt haben, der Krieg ist bald zu Ende, und er wird mit einer Niederlage enden. Und ich glaube, man kann durchaus eine Parallele ziehen zum 20. Juli 1944, wo auch Stauffenberg und seine Mitverschwörer vorher wussten: 'Wir werden wahrscheinlich scheitern'. Und der berühmte Spruch, 'Koste es, was es wolle, wir machen es, damit man hinterher weiß, dass es solchen Widerstand gegeben hat', der gilt auch für 'Die Weiße Rose', auch für Sophie Scholl. Ich glaube, sie wusste, sie riskiert ungeheuer viel, das kann schief gehen. Und dass es trotzdem getan haben, um ein Zeichen zu setzen - das ist bewundernswert."

Ein genaues, differenziertes Bild

Sophie Scholl wurde zur Galionsfigur des deutschen Widerstands, zur Inkarnation des "guten Deutschen", des mündigen Bürgers, dem Freiheit vor Subordination, Unabhängigkeit vor blinden Gehorsam geht und der dafür sein Leben riskiert. Doch nicht als Ikone, als Mensch porträtiert sie Barbara Beuys, als Mensch mit Widersprüchen: couragiert und verzagt, lebensfroh und traurig.

Ob ihre ambitionierte, detailreiche Biographie das oftmals romantisch verklärte Bild der Sophie Scholl tatsächlich zu korrigieren vermag, sei dahingestellt. Barbara Beuys jedenfalls hat, um Sachlichkeit und Objektivität bemüht, eine in Teilen vielleicht etwas ausführlich geratene, aber doch mustergültige Biografie auf der Höhe der aktuellen Quellenlage vorgelegt: Ein Bild von Sophie Scholl, wie man es genauer und differenzierter wohl nicht bekommen kann.

Service

Barbara Beuys, "Sophie Scholl. Biographie", Hanser Verlag

Hanser
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin