Von Jessica Lind
Ich träume vom Sehen - Teil 3
Ich werde aus meinen Träumen gerissen, von einem Klingeln. Ich schlage die Augen auf. Das Geräusch vermischt sich mit meinem Traum, doch einen Moment später kann ich mich nicht mehr daran erinnern, nur der polyphone Klingelton, der ist geblieben.
8. April 2017, 21:58
Ich taste nach meinem Handy, ich habe es immer neben mir am Nachtkästchen liegen. Ich hebe ab und höre deine Stimme. Ich bin es, sagst du und flüsterst dabei, so, als wolltest du mich nicht vollends aufwecken. Ich habe geträumt, ganz schrecklich geträumt. Ich habe vom Sehen geträumt. Auf einmal waren da Bilder, oder ich weiß nicht, vielleicht stelle ich mir so auch nur Bilder vor, auf jeden Fall waren da außer den Geräuschen auf einmal noch Bilder und Farben, vielleicht, und Licht auch. Das Licht war so grell, dass es mir schwer gefallen ist, die Augen offen zu halten. Aber ich habe nichts erkannt, gar nichts. Ich bin durch meine Wohnung gestolpert, die auf einmal deine Wohnung war. Ich habe alles berührt um mich zurechtzufinden, aber die Bilder haben nicht meiner Vorstellung entsprochen und ich bin überall dagegen gelaufen. Schließlich bin ich endlich vor dem Spiegel gestanden und habe das kalte Spiegelglas berührt und dann, dann habe ich mich gesehen. Du beginnst zu schluchzen. Es war ja nur ein Traum, sage ich schlaftrunken, ohne mir genaue Gedanken zu machen. Schlaf jetzt weiter. Lars, deine Stimme klingt ernst und traurig. Lars, ich kann mein linkes Bein nicht bewegen.
Ich fahre mit dir ins Krankenhaus. Lange sitzen wir in der Ambulanz, ich fülle dein Krankenblatt aus und halte deine Hand. Die Ärzte machen Tests mit dir, ich warte draußen. Ein Arzt kommt, sie wollen dich über Nacht hier behalten und noch mehr Tests machen. Ich soll morgen wieder kommen. Ich verabschiede mich von dir und habe Tränen in den Augen. Irgendwie fühlt sich der Abschied seltsam engültig an, ernster, als er eigentlich ist. Morgen komme ich wieder, sage ich, zuhause kann ich nicht einschlafen, ich starre an die Decke. Hätte mir etwas auffallen müssen? Am nächsten Tag sagt der Arzt, dass sie glauben, dass du Multiple Sklerose hast, sie müssen die Blutuntersuchung noch abwarten, aber die wird die Diagnose nur bestätigen. Man hätte es früher herausfinden können, wenn du sehen könntest, die ersten Anzeichen machen sich oft durch die Augen bemerkbar. Du fragst ob du irgendwann nicht mehr laufen können wirst. Der Arzt sagt, das kann man noch nicht sagen. Die Krankheit verläuft oft ganz unterschiedlich, aber es gibt gute Chancen möglichst lange selbstständig zu bleiben. Es ist eine schwierige Situation. Man muss sich darauf einstellen. Der Arzt dreht sich zu mir und fragt mich, ob wir Zwillinge sind. 35 Prozent. Ich soll mich auch testen lassen. Negativ. Ich soll einmal jährlich zur Kontrolluntersuchung kommen. Ich mache mir Vorwürfe, wenn ich die Krankheit vor dir bekommen hätte, hättest du dich darauf einstellen können. Ich bin froh, dass du gesund bist. Sagst du, und wirst ganz bleich. Ich werde jemanden brauchen, der sich um mich kümmert.
Du fragst nicht nach dem Warum.
In meinem Traum hältst du mich an der Hand, es bin nicht ich, der deine Hand hält, nein, du hältst meine. Ich kann nichts sehen, ich kann mich nicht zurechtfinden, aber es macht mir nichts aus. Ich habe keine Angst, denn du führst mich durch die Dunkelheit und erklärst mir deine Welt. Alles ist intensiver. Die Gerüche, die Geräusche, deine Berührung. Ich bin glücklich. Kurz bevor ich aufwache, bemerke ich, dass ich die Augen nur geschlossen halte. Aber ich will sie nicht aufmachen, ich will nicht herausfinden, ob alles, all das Schöne, nur eine Lüge ist. Ich gehöre ganz dir. Ich brauche dich mehr, als du mich je brauchen kannst.
Die Krankheit kommt in Schüben, es gibt da Tage, da kannst du nicht einmal den Arm hochheben. Ich gebe meine Wohnung auf und ziehe in deine blaue Welt. Der Baum vor dem Fenster verliert die Blätter, Schnee legt sich auf seine Äste, die Jahre vergehen, dann beginnt er wieder zu blühen. Als du einmal den Mund öffnest und die Wörter nicht aussprechen kannst, erschrecken wir beide. Ich fahre dich sofort zum Arzt, der feststellt, dass jetzt auch dein Sprachzentrum im Gehirn angegriffen ist. Auf der Heimfahrt sagen wir beide nichts. Du schließt die Augen und setzt deine große dunkle Sonnenbrille auf, die du nur trägst, wenn du dich unwohl fühlst, damit ich deine Tränen nicht sehen kann.
Wir waren Kinder, als du dich draußen in den Regen gestellt hast und dich immer weiter gedreht hast, bis du schließlich ganz die Orientierung verlierst. Du warst nass bis auf die Knochen. Komm wieder ins Haus, habe ich geschrien, aber du hast nur gelacht. Komm nach draußen, dann kannst du die ganze Welt spüren! Du hast dich weitergedreht und man konnte wegen des Regenwassers deine Tränen nicht sehen.
Heute hast du einen guten Tag. Wir können nach draußen gehen und in den Park. Die Enten drehen ihre immer gleichen Kreise und schnattern laut, wenn man ihnen Brotkrumen ins Wasser wirft. Du hörst das Plätschern, wenn das Brot auf der Oberfläche auftrifft. Wir sitzen auf einer Bank, an dem kleinen See im Park und du knöpfst dir den Mantel auf, es ist Herbst und eigentlich zu kalt dafür, aber ich sage nichts, weil ich doch weiß, dass es nichts bringt dich zu ermahnen. Ich breche das Brot ab, beschreibe dir die Szenerie und du sagst mir, wo ich es hinwerfen soll, weil deine Hände zu sehr zittern um es selbst zu tun. Wenn es dunkel wird, knöpfe ich dir den Mantel doch zu, so wie du es früher bei mir gemacht hast und nehme dich bei der Hand. "Sei doch nicht so schrecklich selbstgerecht." sagst du, musst aber dabei ein bisschen lachen. Du meinst es nicht böse, aber es ist zum Verzweifeln. Wie lange wirst du die Worte noch selbst sprechen können?
Die Erinnerung ist ein See aus Wörtern, nein, er ist wie ein See aus Worten, auf dem Enten schwimmen und nach den einzelnen Worten tauchen, die zusammengesetzt eine Erinnerung ergeben. Mein Leben, das ist die Summe meiner Erinnerung, flüsterst du und schiebst das Mikrofon näher zu deinem Mund. Der Nahbesprechungseffekt der mir die Haare auf meinem Unterarm aufstellt. Du brichst ab und ich bin so grausam, die Aufnahme weiterlaufen zu lassen. Ich werde weniger. Jeden Tag verliere ich. Bis ich irgendwann nicht mehr da bin.
Und ich kann auch noch weinen über dich, dann, wenn ich in der Nacht aufwache und du nicht neben mir liegst und ich alleine bin, und doch nicht alleine bin, dann kommen die Tränen wie ganz von selbst, brechen einfach hervor, und ich weiß nicht wieso und ich sitze da und weine und plötzlich fällt es mir ein, dass es wegen dir ist und erst dann kann ich langsam aufhören zu weinen oder mich noch ein Weilchen in den Schlaf weinen, je nachdem.
Du darfst nicht verschwinden. Sage ich. Ich werde immer für dich da sein.
Deine Hände. Deine Hände liebe ich am meisten und ich spüre immer noch wie sie mich berühren, die Wirbelsäule entlangfahren, wie sie meine Augen schließen und ich nur noch fühle. Ich spüre das Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich mich daran erinnere, wie sie mich kitzeln. Wie deine Finger meine Lippen berühren und ich zu lächeln beginne. Du sprichst mit deinen Händen, du lachst mit deinen Händen und du fühlst mit deinen Händen. Immer brauchst du etwas zum Anfassen, mit deinen Händen verstehst du die ganze Welt. Ich sehe deine Hände, wie sie die Zeilen deiner Bücher entlangfahren, wie du jedes Wort mit deiner Fingerspitze berührst, während du es liest. Beim Spazierengehen hebst du ständig irgendwelche Dinge auf und steckst sie in deine Tasche, Steine, Käfer, Blätter, Zigarettenstummel, Glasscherben. Du malst mit deinen Fingern Bilder in die Luft. Jede Berührung so voller Leben.
Wir werden gemeinsam alt werden. Wir werden nebeneinder sitzen, in zwei Schaukelstühlen und ich werde dich an der Hand nehmen und dir von der Welt erzählen. Die Sonne wird langsam untergehen und du wirst mir vorlesen, aus deinen Büchern. Es macht nichts, wenn die Sprache versiegt, denn wir haben uns alles erzählt, wir sind eins, ich bin du und du bist ich. Solange du bei mir bist, kann ich glücklich sein, und deine beiden Augen küssen und dir durch dein Haar streichen, das weiß geworden ist. Ich brauche dich viel mehr, als du mich brauchen kannst. Und wenn du dann die Augen schließt, vielleicht für immer, dann trage ich dich in unser Bett und decke dich zu und ich werde nicht weinen, weil ich ja weiß, dass ich dir bald folgen werde, in dieses ewige Weiß, in dem uns nichts mehr trennen kann. Ich lege mich zu dir, in unser Bett und starre an die Decke und greife nach deinen Händen, die ich dir über dem Bauch gefaltet habe. Deine Hände, es gibt nichts, das so schön ist wie sie. Ich habe dich zuerst geliebt.
Und ich stoße mich ab, von dem lehmigen Boden und steige hinauf in die Lüfte. Es macht mir keine Angst, nichts spüren zu können, außer den Wind und das Licht, denn endlich, endlich fühle ich mich frei und ich schwebe über allem, das vergänglich ist und eigentlich auch nur ein Moment und schon vorbei, nach einem Atemzug. Die ganze Welt ist eine Ahnung und kein Mensch kann jemals einen anderen verstehen, aber wir sind eins. Ich halte dich an meiner Hand und gemeinsam singen wir Lieder. Die Musik, das Einzige, das ich mitnehme. Sie trägt mich in die Lüfte, immer weiter. Und ich spüre, dass du lächelst.