Von Jessica Lind
Ich träume vom Sehen - Teil 1
Er und sie. Ein Zwillingspaar. Man könnte sie für Liebende halten. Was sie in gewisser Weise auch sind. Die Beziehung ist zärtlich und rücksichtsvoll. Erst nach und nach gibt der Text sein Geheimnis frei.
8. April 2017, 21:58
Ich öffne meine Augen und vor mir liegt die Straße. Ich kann sie nicht sehen, ich kann gar nichts sehen, aber ich kann einen Fuß vor den anderen setzen und ich spüre den Staub unter meinen Füßen. Die Straße reicht bis an den Horizont, und weiter, immer weiter. Ich kann den Duft der Felder riechen, auf beiden Seiten. Das Gehen fällt mir leicht. Ich brauche niemanden, der mich an der Hand nimmt und mich führt, auch meinen Stock brauche ich nicht. Ich trage ein leichtes Sommerkleid und spüre den Wind, der mir unter den Stoff weht. Ich brauche mich nicht festzuhalten. Mit dem Fuß scharre ich in den sandigen Boden und spüre die Erde. Meine Hände zittern ein wenig. Ich gehe immer weiter, immer weiter. Die Straße ist unendlich. Irgendwann habe ich ihr Ende erreicht. Es ist nicht dasselbe Gefühl, als wenn ich vergesse, dass da keine Stufe mehr ist und ins Leere steige und ein wenig das Gleichgewicht verliere. Auch wenn ich nichts sehen kann, kann ich die Umgebung spüren, sie ist ein Teil von mir und so falle ich nicht in den Abgrund, sondern ich stoße mich vom Boden ab und kann in die Luft steigen und davon fliegen, aber nicht in die Dunkelheit, sondern aus der Dunkelheit hinaus, ins Licht, das ich warm auf meiner Haut spüre.
Ich lege die Kassette in den Rekorder und drücke auf Play. Ich höre deine Stimme, wie sie leise, fast flüsternd erzählt. Ich sehe vor meinem inneren Auge dein Gesicht, deinen Mund, der beim Sprechen tanzt, deine Augen, die selbst im Dunkeln leuchten und deine Haare, wie sie golden das Licht reflektieren. Du legst deine Hand auf meine Wange und deckst mich zu und erzählst mir die Gute Nacht Geschichte – jeden Abend dieselbe, jeden Abend im selben Wortlaut, ich könnte mitsprechen wenn ich wollte, es ist die Gewohnheit, die mich immer an derselben Stelle einschlafen lässt. Deine Stimme wird leiser, fast flüsternd, bis sie irgendwann in die Stille fadet.
Ich drücke auf Stopp. Du erzählst von dem Sommer, in dem du dich zum ersten Mal verliebt hast. Du erzählst, wie du ihm überall hin gefolgt bist, und ihm geheime Zeichen an den Wänden und Bäumen hinterlassen hast, wie du ihm Briefe geschrieben hast und ihm niemals gegeben. Du fragst dich, ob du damals zu jung warst für die Liebe, aber im selben Atemzug glaubst du, dass du vielleicht nur damals wirklich verliebt warst. Du erinnerst dich nicht mehr an seinen Namen, aber an seine dunkelblauen Shorts und schneeweißen Waden. Einmal durch sein schwarz gelocktes Haar wuscheln, und du hättest glücklich sterben können. Das ist albern. Sagst du und lachst.
Ich lege den Stift und den Block beiseite und gehe zu meinem Regal. Ich streife mit der Hand über die Buchrücken, über die CD Hüllen, über die Plattencover. Rubber Soul. Ich ziehe die Platte aus der Hülle und lege sie in meinen Plattenspieler. Der Apfel in der Mitte beginnt sich zu drehen und verschwimmt zu einer Farbspirale.
Ich komme nach Hause und du sitzt auf dem Sessel, wie du es immer tust, mit angezogenen Beinen und deine Hände umarmen deine Unterschenkel. Aus der Stereoanlage kommt Musik, es sind immer die Beatles, die du so sehr liebst. Natürlich hast du mich bemerkt, ich kann noch so leise sein, du bemerkst mich immer, du spürst meine Gegenwart, vielleicht, weil wir eins sind, weil wir zusammen gehören, aber du bewegst dich nicht, du bleibst ganz still sitzen, vielleicht möchtest du dich nicht stören lassen. Ich stelle meine Tasche ab und stelle mich hinter dich und streiche mit meiner Hand durch dein kurzes Haar. "Wie war dein Tag?" frage ich dich. "Dunkel." Ist deine Antwort und ich muss lächeln. "Soll ich uns Abendessen machen?" frage ich. Du schüttelst langsam den Kopf. "Nein, lass uns ausgehen, ich möchte tanzen, ich möchte die ganze Nacht durchtanzen."
Das Weggehen ist immer einfacher als das Zurückkommen. Ob man jemals zurückkommen kann? Immer hat sich alles etwas verändert, nichts bleibt jemals gleich, oder dasselbe, ich stehe vor dem Haus und erkenne es kaum wieder. Es ist kleiner geworden, es ist klein geworden. Hinter den Türen und den Wänden finde ich dich, wie du im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzt, mit angezogenen Beinen und umschlungenen Knien. Ich kann nicht glauben, dass du es bist. Du hast dich verändert, du bist erwachsen geworden. Nur deine Augen, deine Augen sind dieselben und aus ihnen rinnen große, salzige Tränen. Du spürst meine Anwesenheit, aber du sagst nichts. Ich gehe auf dich zu und nehme dich in den Arm, deinen schönen Körper, aber du rührst dich kaum. Dass wir uns so wiedersehen müssen. Deine Augen sagen, was du nicht über die Lippen bringst. Warum bist du weggegangen, warum hast du mich hier alleine zurückgelassen? Es ist das Dorf, das einen erdrückt, das einem keine Luft zum Atmen lässt und einen kleiner macht, als man eigentlich ist. Als alles vorbei ist und die Särge in ihren Gräbern liegen, diese dunklen, schweren Särge, sei froh, dass du sie nicht sehen kannst, flüstere ich dir ins Ohr und du nimmst mich an der Hand, als alles vorbei ist, nehme ich dich mit in die Stadt, mit zu mir, in meine kleine Wohnung. Du streckst den Kopf aus dem Fenster des fahrenden Autos und lachst. Deine langen Haare wehen im Wind. Du lachst.
Mein Gott, wir waren Kinder, damals. Immer wenn du dich gefürchtet hast, hast du nach meiner Hand gegriffen und wir haben uns ein Bett geteilt und ein Leben. Du warst immer mutiger als ich, du bist den kleinen Steinbruch hinaufgeklettert bis ganz nach oben, ich habe es nur ein paar Meter geschafft, dann habe ich nach unten gesehen und mich gefürchtet, vor der Höhe und vor dem Fall. Die Anziehungskraft des Abgrunds. Aber du bist immer weiter hinauf geklettert, den Stock hast du unten im Gras liegen gelassen. Ach diesen Stock, wie sehr du ihn gehasst hast. Wir sind nebeneinander im Bett gelegen und immer am nächsten Morgen fragst du mich was ich geträumt habe. Ganz oft weiß ich es nicht mehr und dann überlege ich mir eine Geschichte, aber ich bin nicht so gut im Erzählen wie du. Du erzählst mir jeden Abend eine Gute Nacht Geschichte, jeden Abend dieselbe, jeden Abend im selben Wortlaut.
Technobeats, Lichter, Lichter die so grell sind, dass man die Augen nur für Momente öffnen kann und das Bild flackert vor deinen Augen, es wird nicht greifbar, aber du bewegst deinen Körper im Rhythmus der Musik aus den Boxen, du wirst eins mit dem immergleichen Rhythmus. Licht, so grell, dass es sogar durch die geschlossenen Augenlider weh tut. Ich beobachte dich im Flackern des Stroboskoplichts. Du kannst die Augen nicht aufmachen. Nein, du willst die Augen nicht aufmachen, vielleicht könntest du es ja doch. Ich stehe an der Bar und richte meinen Blick auf dich, ich wende ihn nicht ab. Hier, in der dunklen Ecke bin ich dein Beobachter, auch wenn du niemanden brauchst, der dich beschützt. Dort, auf der Tanzfläche bist du so wie alle anderen, du bist nicht anders, du spürst das Licht auf deiner Haut und in deinen Augen und du spürst den Rhythmus, der durch deinen ganzen Körper fährt.
Du stehst vor dem Spiegel und weinst. Weinen ist ein Stadium absoluter Gefühlsfreiheit, du lässt den Tränen freien Lauf, gibst die Verantwortung ab und gelangst in den Zustand tröstlicher Bedürfnislosigkeit. Du genießt es, wie sich die Tränen ihren Weg über deine wohlgeformten Backenknochen bahnen, einige wählen die Abzweigung zum Mund, andere zum Kinn, bis schließlich dein ganzes Gesicht bedeckt ist und die Tropfen zu Boden fallen. Dein Körper sieht zart und zerbrechlich aus, während er manchmal vor einer Tränenwelle erzittert. Es scheint dich nicht zu stören, dass ich das Zimmer betreten habe, du starrst in deine Spiegelaugen, die du nicht sehen kannst. Eine Weile beobachte ich dich, du hast dir die Haare geschnitten, die langen Strähnen liegen am Boden um dich herum, dann gehe ich auf dich zu und umarme deinen nackten Körper. Du lässt es geschehen, drückst dein Gesicht schließlich sogar an meine Brust, während deine Tränen mein Hemd durchnässen.