Von Jessica Lind
Ich träume vom Sehen - Teil 2
Ich habe dich zuerst geliebt. Deinen schönen Mund, der die Worte ausspuckt, die ich, wenn ich die Augen schließe, sehen kann, so viele Worte, ich kann sie nicht zählen, aber ich kann sie aneinander reihen zu deinen Sätzen und zu deiner Geschichte.
8. April 2017, 21:58
Mit geschlossenen Augen stelle ich mir deine Welt vor. Ich strecke meine Hand aus und taste mich durch dein Leben, greife nach deinem Haar und nach deinen Wangen, die ich in meinen Händen halte. Aber das letzte Bild hat sich eingebrannt, in meine Iris, und ich beobachte wie es sich langsam verflüchtigt. Du hast mich nie gesehen. Ich habe dich zuerst geliebt. Ich bin ein Geruch für dich, den du nicht in Worte fassen kannst. Du erkennst mich an meiner Stimme. Ich erkenne dich an dem Klang deiner Stimme, den ich heraushören kann, aus einer Menschenmenge. Immer habe ich dich bewundert, wie du dich durch eine Menschenmenge bewegst, selbstverständlich und immer mich findest. Du bist anders. Du bist besonders. Du bist wundervoll. Dein Mund kräuselt sich beim Sprechen. Du wirst nie wissen, wie wunderschön du bist, so wunderschön, dass sich die Männer nach dir umdrehen. Ich bin neben dir gelegen. Ich habe dich zuerst geliebt. Und meine Hand gleitet in die Hose, ich will sie noch zurückhalten, aber es ist schon zu spät. Das Mondlicht fällt durch den Spalt im Vorhang und beleuchtet dein goldenes Haar, dein goldenes Haar, das das Licht bricht. Ich sehe das Licht und ich sehe dich. Meine Hand wird zu der Bewegung und ich muss mir auf die Lippen beißen, dass du mein Stöhnen nicht hörst. Ich habe dich zuerst geliebt. Dein Mund, dein Mund kräuselt sich beim Sprechen und ich möchte dich küssen, nicht wie ein Bruder seine Schwester küsst. Ich schäme mich für meine Gedanken. Wir teilen uns ein Bett. Ich berühre dich an der Schulter. Ich rieche deinen Duft. Die Abwesenheit des Lichts bedeutet nichts, bedeutet nur, dass wir beide gleich sind, dass wir beide eins sind. Ich bin du und du bist ich. Ich habe dich zuerst geliebt.
Die Stadt hat ihren eigenen Klang. Du reckst den Kopf in alle Richtungen und zuckst manchmal zusammen. Alles in Ordnung, frage ich. Erschrocken drehst du deinen Kopf zu mir. Es ist laut. Flüsterst du. Die Stadt klingt so anders. Ich muss mich erst daran gewöhnen. Wir gehen in meine Wohnung. Du zählst die Stufen und flüsterst die Zahlen mit den Schritten vor dich hin. 28. 26. 26. Wir sind im dritten Stock angekommen. Mit der Hand fährst du die Wand entlang. In der Wohnung setze ich dich auf einen Sessel. Du ziehst die Beine an und umarmst deine Knie. Dann seufzt du. Es wird ein bisschen dauern, bis ich mich an das alles gewöhnt habe. Ich nicke, du kannst es nicht sehen. Du musst mich durch die Wohnung führen und ich muss die Schritte zählen... Lass dir doch Zeit damit. Wir haben doch Zeit. Du schüttelst den Kopf. Nein, wie soll das mein zu Hause sein, wenn ich mich nicht zurechtfinden kann? Wir gehen durch die Wohnung und du zählst deine Schritte und lässt deine Hand die Wände entlangfahren. Du lächelst. Jetzt habe ich mir ein Bild gemacht. Dann bleibst du stehen und berührst mein Gesicht. Du fährst mit deinem Zeigefinger über meine Stirn, über meine Nase bis zu meinem Kinn. Du bemerkst die Bartstoppel, mit beiden Händen greifst du nach meinen Ohren und fährst mir durch meine Haare. Dann schließt du mir die Augen und umarmst mich. So siehst du jetzt also aus. Du bist alt geworden, mein Lieber, ich kann schon die ersten Falten spüren. Wo ist ein Spiegel? – Wieso? Frage ich dich.
Wir haben uns an den Händen genommen und im Kreis gedreht. Tellerreiben. Du konntest nicht genug davon bekommen. Kaum sind wir auf unseren Hosenboden gesessen, hast du "noch mal!" geschrien und im Gras nach meiner Hand getastet. Es ist wie fliegen! Rufst du, während wir uns im Kreis drehen und Schneller! Immer schneller drehen wir uns und die Welt zieht an meinen Augen vorbei. Nur dein Gesicht. Auf einmal sind wir erwachsen.
Wenn man klein ist, glaubt man nicht, dass jemand die Welt anders wahrnehmen könnte, als man selbst. Du bist zu früh geboren. Wie kann man nur so klein sein. Nebeneinander liegen wir in unseren Brutkästen, während wir eigentlich noch in der Fruchtblase liegen sollten und uns an den Händen halten. Retrolentale Fibroplasie. Unsere Mutter wird lernen, das Wort richtig auszusprechen. Für mich bist du nicht anders, für alle anderen schon. In der Schule spielt man dir Streiche, ich prügle mich mit den anderen Jungen ohne es dir zu erzählen. Dann gehst du auf eine andere Schule, in der Stadt. Ich will auch auf diese Schule, ich will bei dir sein. Du liest jetzt mit deinen Händen. Es ist wie eine Geheimschrift, die nur du verstehst. Während du mit den Fingerkuppen über die Seiten fährst, sprichst du die Wörter vor dich hin und liest mir vor. Du nimmst meine Hand und legst sie auf das Blatt. Kannst du das spüren? Ich spüre die Vertiefungen und Erhöhungen. Das sollen Worte sein? Du nickst. Ich kann nicht glauben, dass du wirklich nichts sehen kannst. Ich setze mich in eine Ecke in unserem Zimmer und bin ganz still. Du rufst meinen Namen. Das ist nicht lustig. Sagst du und tastest mit deinen Fingern den Raum ab, ich weiche dir aus. Dann beginnst du zu weinen und ich sage noch immer nichts.
Wir stehen vor dem großen Spiegel in meinem Schlafzimmer. Du berührst mit der Hand das Spiegelglas, erst dann kannst du den Spiegel sehen. Sehen wir uns ähnlich, fragst du mich. Ich schaue uns beide im Spiegel an, ich bin etwas größer als du. Ja, wir sehen uns ähnlich, sage ich und du lächelst, Bruder und Schwester. Deine Nase ist etwas schmäler als meine und deine Augen sind größer. Ich sage dir, dass du schön bist, und du freust dich darüber. Wirklich? Sagst du und tastest nach deinem Gesicht. Ja, flüstere ich und es macht mich traurig. Erzähl mir, wie ich aussehe!
Als ich dir zum ersten Mal die Kassetten vorspiele, erschreckst du. Dass das deine Stimme sein soll willst du nicht glauben. Sie klingt in meinem Kopf ganz anders. Sagst du. Hier klingt sie fremd. Aber du hast eine schöne Stimme, du hast die schönste Stimme, denn du bist nur Stimme. Nein, du bist nur Stimme, sagst du. Deine Stimme, das ist alles was ich von dir habe. Dieser Klang. Und auf einmal mache ich mir Gedanken über meine Stimme, von der ich mir nichts mehr wünsche, als dass du sie schön findest. Findest du meine Stimme schön? Frage ich und versuche dabei sie etwas tiefer klingen zu lassen. Du lachst. Du bist mein Bruder. - Ja, und? Frage ich und bin ein bisschen gekränkt. Machst du dir Gedanken über das Aussehen von Menschen die du täglich siehst? Fragst du und ich muss es verneinen. Aber ja, du hast eine schöne Stimme. Sagst du schließlich, aber ich glaube dir nicht ganz. Weißt du, deine Stimme ist das erste an das ich mich erinnern kann und ich höre sie immer. Auch wenn du nicht sprichst. Sage ich. Komm, dreh den Rekorder wieder auf. Sagst du, und weißt nicht, dass ich ihn die ganze Zeit mitlaufen gelassen habe. Ich erzähle dir diese Gute Nacht Geschichte, erinnerst du dich, die ich dir immer erzählt habe als wir noch Kinder waren.
Was hast du geträumt? Fragst du mich beim Aufwachen. Nichts, antworte ich, gar nichts. Ach komm schon, sagst du. Ich habe nichts geträumt. Ich kann mich nicht erinnern, da ist nur Dunkelheit. Du schweigst. Weißt du, ich habe geträumt, dass ich nichts sehen kann, deswegen, deswegen erinnere ich mich nicht. So ist es nicht! Sagst du. Ach ja, wie träumst du denn? Frage ich. Kannst du dann auf einmal sehen, Farben und alles, Licht? Kannst du im Traum mein Gesicht sehen und das von Mama? Weißt du dann auf einmal was blau wirklich ist? Ich bin gemein, ich weiß es, aber ich kann nicht aufhören. So ist es nicht, sagst du. Du hast ja keine Ahnung!
Blau ist deine Lieblingsfarbe. Deine Augen sind blau, der Himmel ist blau, das Wasser ist blau. In der Nacht schleichen wir uns aus dem Haus. Es ist Sommer und wir gehen zu dem kleinen See. Du ziehst dich aus, das Mondlicht lässt deine weiße Haut silbrig schimmern. Du gehst ins Wasser, du legst dich auf den Rücken und lässt dich im Wasser treiben. Schwerelos. Ich beobachte dich. Die Grillen zirpen und ich höre das Wasser leise plätschern. Ich schließe die Augen und ich höre die Nacht und den Wald und ich höre dich atmen. Du siehst mit deinen Ohren. Was brauche ich Augen, wenn ich dich habe, sagst du einmal. Mit unseren Eltern fahren wir nach Rom und du möchtest, dass ich dir alles genau beschreibe. Wir gehen durch die Straßen, ich halte dich an der Hand und erzähle dir von der Frau mit dem albernen Hut, von den Männern, die auf einer Baustelle arbeiten und ihre Hemden ausgezogen haben. Ich erzähle dir von den Autos und von der kleinen Trattoria an der wir vorbei gehen. Wir fahren weiter ans Meer und ich erzähle dir vom Meer, das grünlich blau die Sonne reflektiert und von dem Horizont, der im Meer versinkt und umgekehrt. Es ist wunderschön, sagst du, während dir der Wind die Haare aus dem Gesicht weht.
Ich habe uns Kaffee gekocht und Frühstück gemacht. Du kommst aus deinem Zimmer, reibst dir die Augen und setzt dich an den Tisch. Riecht gut, sagst du, ich sage, Guten Morgen. Und: Was hast du heute Nacht geträumt? Du rührst dir Zucker in den Kaffee. Es ist die Routine, mit der wir den Tag bestehen. Ich stelle immer alles an denselben Platz, so, dass du auch den Zucker mit einem Handgriff findest. Die Routine ist wichtig. Du brauchst nicht nachdenken, du weißt wo alles ist, und kannst dich ganz selbstverständlich in unserer Wohnung bewegen. Vielleicht wird es Zeit, dass ich ausziehe. Sagst du. Ich kann ja nicht ewig bei dir bleiben. Ich frage warum, aber du gibst mir keine Antwort, sondern fährst nur gedankenverloren mit deiner Fingerspitze über den Becherrand.
Vielleicht wäre es besser gewesen jung zu sterben. Deine Stimme ist brüchig, so wie der Putz an der Wand. Es wäre leichter gewesen. Für mich nicht, sage ich. Aber jetzt werde ich dich vergessen, sagst du, und greifst nach meiner Hand. Manchmal habe ich dich schon vergessen. Es tut mir leid. Sagst du. Du kannst nichts dafür, sage ich. Ich glaube manchmal schon. Sagst du. Heute hast du einen guten Tag, wir können nach draußen gehen und im Park spazieren. Es ist schön hier. Sagst du. Ich bin gerne hier. Und ich weiß, dass du es nur sagst um es mir leichter zu machen.
Wir suchen dir eine Wohnung, ganz in der Nähe von meiner. Wir treffen uns mit dem Makler und stehen in dem leeren Raum. Die Wände sind weiß gestrichen. Bitte, beschreib mir den Raum, sagst du. Die Wände sind hoch, es ist eine Altbauwohnung, so wie du es dir gewünscht hast. Alle Wände sind weiß gestrichen, an manchen Stellen bröckelt der Putz, aber das lässt sich reparieren. Die kleine Küche ist hübsch. Sie ist im Stil der 60er Jahre eingerichtet mit orangenen Schränken und einem lustigen Muster auf den Kacheln. Hier, im Zimmer sind große Fenster durch die viel Licht fällt. Die Wohnung ist hofseitig gelegen, das heißt, du wirst den Straßenlärm nicht hören. Aber das Schönste ist, dass vor deinem Fenster ein Baum wächst, der jetzt schon grüne Blätter trägt. Du lächelst und fragst den Makler ob wir das Fenster aufmachen können. Du stellst dich ans Fenster, die Luft ist noch frisch, aber es riecht nach Frühling.
Wir streichen deine Wohnung in verschiedenen Blautönen. Indigo, Aquamarin, Kobalt. Als wir fertig sind bestellen wir uns Pizza und sitzen uns auf dem Fußboden gegenüber. Im Hintergrund läuft eine Platte der Beatles. Deine Augen, wie Wasser, sie sind verschwunden, hinter dem Fehlen einer Wahrnehmung. Was du wohl siehst, wenn du durch mich hindurch siehst, an mir vorbei starrst, meine Augen, die Stäbchen und Rezeptoren, die eine Version der Wirklichkeit aufnehmen und die Nervenbahnen die sie an das Gehirn weiterleiten. Aber die Version ist niemals dieselbe, denn die Farbe deiner Augen ist nur eine Illusion, es gibt sie gar nicht, die Farben, es gibt nur das Licht, dieses grelle Licht, absorbiert und reflektiert, kohärent. Es sind die Frequenzen, es sind die Wellenlängen, die Farbe deiner Augen, 490 Nanometer, 697 Terahertz, die Mathematik ist die Wahrheit, denn die Welt besteht aus Zahlen und Formeln, mit ihr kann man die Welt erklären, die unsere Wahrnehmung übersteigt. Die Ruhe einer Gleichung, die Schönheit von Pi, ein Rätsel in sich, denn vielleicht ist es gerade das, was man nicht versteht ist immer am Schönsten.
Der Apfel in der Mitte beginnt sich zu drehen und verschwimmt zu einer Farbspirale. I once had a girl, or should I say, she once had me... Deine Musik. She showed me her room, isn't it good, Norwegian wood? Die Tür öffnet sich, erschrocken drehe ich mich um und natürlich bist es du. She asked me to stay and she told me to sit anywhere. Ich treffe deinen Blick, der alles sagt. So I looked around and I noticed there wasn't a chair. Du selbst sagst nichts. I sat on a rug, biding my time, drinking her wine. Vielleicht ist diese Musik, das Einzige was wirklich dir gehört. We talked until two and then she said, "It's time for bed" Wir starren uns an, vielleicht für immer. She told me she worked in the morning and started to laugh. Ich möchte dir sagen, dass es mir leid tut. I told her I didn't and crawled off to sleep in the bath. Schnell nehme ich die Platte aus dem Plattenspieler. And when I awoke, I was alone, this bird had flown. Meine Hände sind so klein, die Nadel kratzt an der Schellack-Beschichtung. So I lit a fire, isn't it good, Norwegian wood. Die Platte fällt aus meinen kleinen Händen auf den Fußboden. Du stehst noch immer am Türrahmen und ich glaube du hast Tränen in den Augen.
Du beginnst als Telefonistin zu arbeiten. Wir sehen uns zweimal die Woche, manchmal öfter, dann gehe ich mit dir einkaufen. Am liebsten bist du am Naschmarkt, all die Gerüche und überall darfst du probieren, die meisten Verkäufer erlauben dir auch das Obst und Gemüse anzufassen. Deine Hand verschwindet in einem Sack voll Linsen, du streichst liebevoll über die reifen Tomaten und steckst glücklich das Viertel einer Feige in den Mund. Es ist wie ein Karussell, sagst du, die ganze Wahrnehmung verschwimmt zu einer wunderschönen Geschmacksspirale! Deine Zunge ist viel feiner als meine. Du schmeckst die Unterschiede ganz genau, wenn ich mir die Augen verbinde, fällt es mir schwer eine Tomate an ihrem Geschmack zu erkennen.
Als Kind hatte ich immer Angst, ich könnte mein Gehör verlieren. Das wäre das Schlimmste, viel schlimmer noch, als wenn ich so wie du nichts mehr sehen könnte. Wir könnten uns nicht mehr verständigen. Ich würde dich sehen und du könntest mich hören, aber wir wären für immer voneinander getrennt. Man kann die Ohren nicht zumachen, niemals, nur die Augen, die Augen kann man zumachen und sich der Welt verschließen. Aber die Ohren sind immer offen und die Welt kommt hinein, man kann sie nicht aussperren. Du sagst, dass es dir so lieber ist. Wenn du nichts hören könntest, du würdest verrückt werden, auch wenn du nicht wüsstest was du verpasst. Aber jetzt weißt du auch nicht was du verpasst, sage ich. Du schüttelst den Kopf. Ganz egal, nichts kann so schön sein, wie Musik zu hören. Gar nichts. Und ich kann ja auch noch die Bilder anfassen und die Skulpturen, wenn man mich lässt, aber wenn ich nicht hören könnte, was würde ich dann tun? Ich könnte die Beatles nicht hören, und Mozart auch nicht und auch nicht Mahler. Auch wenn die Welt manchmal weh tut, die Musik entschädigt uns dafür und trägt uns davon und manchmal, manchmal meine ich, ich kann die Musik sehen und verstehen, so wie es sehende Menschen vielleicht nie können. Vielleicht kann ich in der Dunkelheit klarer sehen, als alle anderen.