Roman von Boris Pahor
Die Verdunkelung
Lange Zeit gehörte Boris Pahor nicht zu den bekannten Autoren des Holocaust. Einer der Gründe dafür: Die Geschichte von Triest, die auch der Ausgangspunkt des Romanes "Die Verdunkelung" ist, wird von Pahor zwar in ihrem Mythos fortgeschrieben, aber mit Hinblick darauf, was aus den Trümmern der K.-u.-K.-Zeit später wurde.
8. April 2017, 21:58
Es geht nicht um Kakanien samt Meer, sondern die komplizierten Verwicklungen zwischen Italien und der slowenischen Minderheit, aus der auch Pahor stammt. Ein weiterer Grund für seine geringe Bekanntheit: In der Nachkriegszeit war der Triestiner Italienischlehrer und Auslandslowene mit europäischem Horizont ein vehementer Gegner Tito-Jugoslawiens. Pahor protestierte zum Beispiel gegen die Ermordung der slowenischen Domobrancen durch die Kommunisten; wobei er ersteren in Kriegszeiten selbst zum Opfer gefallen war.
"Überlebensfrage" der Slowenen
Der Roman "Die Verdunkelung" hat Boris Pahors eigene Geschichte zum Vorbild: Auf das Studium am Görzer Priesterseminar folgten italienischer Militärdienst in Libyen, 1943 die Rückkehr nach Triest, Widerstand, Verhaftung und Konzentrationslager.
Radko Suban, der Protagonist, ist ein Romantiker; er meint etwa: "Eigentlich dürfte die Weltgeschichte gar nicht teilnahmslos an einem einzelnen menschlichen Wesen vorbeigehen."
Der Roman setzt 1939 ein - einem Jahr, in dem es vermutlich keinen politisch denkenden Europäer gab, der angesichts des ideologisch monströsen Hitler-Stalin-Paktes nicht verwirrt war. Für Pahor ist der im Zusammenhang damit stehende sowjetisch-finnische Winterkrieg Anlass für seine zentrale Frage: "Noch weniger hätte die Welt taub sein dürfen für die Überlebensfrage eines kleinen Volkes." Gemeint sind die Slowenen und deren Traum von Selbständigkeit, von dessen Verwirklichung sie seit 1918 und der "fatalen Zerstückelung" der slowenischen Gebiete - die einst Bestandteil der K.-u.-k.-Monarchie waren - weiter denn je entfernt sind.
Die slowenische Bevölkerung sah sich mitten im Beginn des zweiten Jahrzehntes des 20. Jahrhunderts einer bislang nicht gekannten Assimilation ausgesetzt; eine echte Austilgung aber begann mit dem faschistischen Regime.
Nebenbei wird in diesem Zusammenhang auch die österreichische Erste Republik erwähnt - und zwar sarkastisch knapp:
Jenseits der Karawanken schnitt eine erbärmliche Volksabstimmung die nördliche slowenische Bevölkerung von ihrem Hauptteil ab.
Militärdienst in Afrika
Radko Suban hat Mija, Tochter aus bürgerlichem Haus, schon mehrfach unter der jugendlichen Hautevolee von Triest gesehen, bevor er sie erstmals anspricht. Für den Studienabbrecher der Theologie ist die "Paradefeministin" mit ihrem "Haarschnitt à la garcon", also mit einem Bubikopf, die sich überdies antiklerikal gebärdet, nicht gerade das Ideal weiblicher An- und Sanftmut. Als er sie aber im Sotscha-Tal und im Karst als Bergführer begleitet, beginnt ein Gespräch über Literatur - Steinbeck, Männer und Mäuse, Dos Passos und Whitman, um der "Triestiner Isolation" zu entfliehen.
All das wird im Rückblick erzählt. Mija heiratet zur allgemeinen Überraschung den "christlichen Aktivisten" Darko Licen - worüber Mijas Bruder Riko, ein kommunistischer Parteiorganisator entsetzt ist; währenddessen leistet Radko seinen Militärdienst in Afrika ab und wird von Erinnerungen an den Gymnasiallehrer Professor Mayer mit dessen Fragen nach König Ödipus verfolgt; und vom Entsetzen über die reale Unterdrückung der Slowenen in Triest durch die Faschisten.
Als Radko 1943 nach Triest zurückkehrt, scheint sich das Blatt allmählich zu wenden:
Auf jeden Fall breitet sich in Slowenien der Aufstand aus, und das las man in den Gesichtern der Leute in Triest.
Einer der Verdammten
Ein zweiter - immer unter strenger auktorialer Erzählerkontrolle - sich entfaltender Rückblick handelt von Radkos Zeit als Dolmetscher am Gardasee, in einem Lager für kriegsgefangene jugoslawische Offiziere. Mussolini wird abgesetzt, von einem deutschen Kommando befreit, die Welt verfolgt gebannt den Vormarsch der Alliierten.
Ob der Gefahr, Radko könnte sich mit den Militärs solidarisieren, wird er in ein Lager bei Bergamo versetzt: Trost findet der junge Mann, der mittlerweile weiß, dass "Sexualität die wichtigste Kategorie aller Lebewesen ist", bei einer gewissen Mirella. Oder in der Betrachtung der Bilder vom jüngsten Gericht auf Giottos Fresken in der Arena-Kapelle zu Padua. Dort sieht sich Radko unter den Verdammten.
Slowenische Befreiung
Die Offiziere des Lagers diskutieren die slowenische Befreiung sowie die Aufstellung einer Armee. Pahor zeichnet hier ein logisches, sehr sauberes Bild der realen Macht- und Gewaltverhältnisse, die üblicherweise komplizierter sind.
Die slowenische Bevölkerung erfuhr die Vernichtungsgelüste beider Faschismen und widersetzte sich beiden.
Der Offizier Egon Vres ist dabei ein Wortführer, geistige Vorbilder sind der Schriftsteller Ivan Cankar und der Dichter Srecko Kosovel, der die "Erlösung der Erniedrigten und Beleidigten" propagiert, allerdings kein Kommunist ist.
Wie der Herr zum Knecht
Die Lage der Slowenen verschärft sich, als Italien dem früheren Verbündeten Hitler-Deutschland den Krieg erklärt. Alle demobilisierten italienischen Militärs, darunter Radko, sollen sich entweder an der "Partisanenbekämpfung" beteiligen, oder in ein Internierungslager verbracht werden. Voller Bitterkeit charakterisiert der Erzähler die Lage in Triest folgendermaßen:
Es wurden sowohl die italienischen als auch die slowenischen Bürger der Stadt gefangen genommen, doch für die Letzteren war die neue Leibeigenschaft im Grunde anders als für die italienische Mehrheit: diese verhielt sich nämlich bereits damals, als Triest noch zu Österreich-Ungarn gehörte, der slowenischen Bevölkerung gegenüber wie der Herr zum Knecht; die Italiener hatten jetzt bei der deutschen Besatzung irgendwie das Gefühl, als ob die österreichische Epoche zurückgekommen sei, die hatte sie ethnisch nie gefährdet.
Folter im Gefängnis
Radko, lange Zeit voller Angst, zu spät zur slowenischen Befreiungsbewegung zu kommen, trifft abermals auf Mija. Deren beider Liebesgeschichte und der Befreiungskampf sind ineinander verwoben: konspirative Treffen, Überbringen von medizinischem Material für Widerstandskämpfer, Kassiber und Verbreitung einer Untergrundzeitung gehören zu ihren Aufgaben.
Radkos ersten Kuss mit seinem "ersten Mädchen" schildert Boris Pahor mit fast altmeisterlicher Inbrunst - wenn es etwa heißt: "Er fragte sich, ob er nicht die Grenzen des Erlaubten überschritt, obwohl es keinen Zweifel gab, dass die Ellipse ihres Körpers ganz an seiner Seite lag." Die Leidenschaften bleiben dezent zwischen Andeutung und Introspektion.
Die Atmosphäre von Triest ist mittlerweile noch bedrückender geworden - in seiner "österreichischen Geschliffenheit" wirkt es verräterisch. Die Widerständler fliegen auf, Radko wird von den sogenannten Domobrancen, den slowenischen Faschisten, verhaftet, ins Gefängnis geworfen, von der Gestapo befragt, verhört und gefoltert.
Jetzt hing er mit dem Kopf nach unten, aber obwohl sein Scheitel das Parkett streifte, kam es ihm so vor, als befände sich unter seinem Kopf eine gähnende Leere, ein dunkles Unterdeck. Es beschlich ihn das Gefühl, außerhalb von Raum und Zeit zu sein, aber im nächsten Augenblick zischten irgendwo über ihm zwei unsichtbare Schlangen, ein Schmerz durchfuhr ihn, er verging, kurz darauf schmerzte es wieder, und dann noch mehr, weil die Ochsenziemer beide von ihrer Seite angeflogen kamen, sich entfernten, mit noch mehr Schwung wiederkehrten.
Ohne Pathos
Boris Pahor scheint auf den gut hundert Seiten Beschreibung von Gefängnis, Folter, und abschließender Deportation ins Konzentrationslager Dachau nie die Fassung zu verlieren; eine "sachliche", quasi technische Dokumentation der Tortur wechselt sich mit panischen inneren Monologen und Diskussionen der Gefangenen ab - ohne alles bloß existenzialistische Pathos, dabei aber immer klassischem Realismus verpflichtet. Ein humanistisches Weltbild im Hintergrund begrenzt den Horror der Beschreibung.
Heute ist man gleichsam Schlimmeres "gewöhnt". Das macht die Stärke des Buches und zugleich dessen Schwäche aus. Aber bekanntlich gibt es im 20. Jahrhundert nur einen Gegenstand, bei dessen Darstellung die Wahl der Ausdruckform ihrem Verfasser absolut frei steht: Konzentrationslager und Terror. Boris Pahors Roman "Die Verdunkelung" hat darüber hinaus noch eine andere besondere Bedeutung: Nach seiner Lektüre darf man den Habsburg-Mythos Triest, Kakanien samt ehemaligem Marinehafen und Meer, getrost vergessen. Alles andere wäre peinlicher Kitsch.
Service
Boris Pahor, "Die Verdunkelung", aus dem Slowenischen übersetzt von Urska P. Cerne und Matthias Göritz, Hermagoras Verlag
Hermagoras - Boris Pahor