Wie die Niederländer das Meer besiegten

H2Olland

Wenn man eine Nation sucht, die buchstäblich mit allen Wassern gewaschen ist, dann sicherlich die Niederlande. In "H2olland" beschreibt der Maarten Asscher, wie der lange Kampf gegen und der kluge Umgang mit dem Wasser seine Landsleute geprägt hat.

Land versus Wasser

In einem Land, das zu einem Fünftel aus Wasser besteht, im Durchschnitt 80 cm Regen im Jahr zu erwarten hat und auch noch am Meer liegt, verwundert es kaum, dass die Bevölkerung eine ganz besondere Beziehung zum nassen Element aufgebaut hat.

Als Fötus besteht der Mensch zu circa 95 Prozent aus Wasser. Nach der Geburt geht der Anteil zwar zurück, aber es sind noch immer mehr als 70 Prozent. Alle Menschen sind also wässrig, doch die Niederländer sind wässriger als andere Menschen.

Wenn man die Niederlande aus der Vogelperspektive betrachtet, weiß man sofort, wovon Asscher spricht: Gräben, Kanäle, Wasserstraßen, Seen und mitten im Land ein 1.100 Quadratkilometer großes Binnenmeer. Dazu kommt, dass große Teile der Landfläche in jahrzehntelangen mühsamen Kämpfen, durch Deiche geschützt, dem Wasser abgerungen wurden.

Wesentlicher Meilenstein dieses Ringens mit der Nordsee war der 1932 fertiggestellte Abschlussdeich. Die in den Niederlanden als "Deich der Deiche" bekannte, 32 Kilometer lange, schnurgerade Verbindung zwischen den Provinzen Nordholland und Friesland teilt die ehemalige Meeresbucht Zuiderzee.

Eingriff mit Folgen

Der Sperrdamm ist das wesentliche Bauwerk in einem großflächigen System von Deichen, Pumpanlagen und Landgewinnungsflächen. Bereits im 17. Jahrhundert gab es die ersten Skizzen zum Schutz vor den zerstörerischen Fluten der Nordsee. Als der Deich nach endlosen Debatten tatsächlich fertig wurde, führte das zu weitreichenden Folgen für die Lebensbedingungen der angrenzenden Kleinstädte.

Tausenden Fischern war plötzlich der Zugang zur Nordsee versperrt. Im erst langsam süß werdenden Wasser des neu geschaffenen Ijsselmeeres gab es ausschließlich Aal zu fischen. Dem gegenüber stehen allerdings Hunderttausende Niederländer, die durch Landgewinnung neue Heimstätten bekamen.

Die Tatsache, dass von Städten wie Almere oder Lelystad mit einer Gesamteinwohnerzahl von über einer Viertelmillion Menschen vor kaum 70 Jahren kein einziger Stein stand, ja nicht einmal der Boden existierte, finden sogar Holländer immer wieder erstaunlich.

Spontane Erstbegehung

Wegen der Unzahl von Menschen, die am Entstehen der ingenieurstechnischen Meisterleistung mitgewirkt haben, kennt jeder in Holland mindestens einen Verwandten, der irgendwie daran beteiligt war.

Es gibt jedoch eine Person, die im kollektiven Gedächtnis sogar näher mit dem Abschlussdeich verbunden ist, als dessen Erbauer C. J. Lely. Grietje Bosker ging in die Geschichte der Niederlande ein, weil sie als junge Frau mit einer beispiellosen Tat auf sich aufmerksam machte.

Bei der offiziellen Einweihung des Abschlussdeichs, zog sie sich Schuhe und Strümpfe aus, zog ihre Röcke hoch und lief barfuß über den fetten Geschiebelehm des letzten Teilstücks. Durch diese freche Aktion betrat sie als erste - noch vor den dafür vorgesehenen Offiziellen - den neu errichteten Sperrwall.

Wohl nannten einige Zeitungen es eine Schande, dass sie ihre Röcke so hoch gehoben und damit zahllosen Kameras - und der prüden holländischen Öffentlichkeit des Jahres 1932 - einen nicht unerheblichen Blick auf ihre Moltonunterhose gegönnt hatte. Auf ihrem Grabstein ist energisch eingemeißelt: "Ihr Stolz war der Abschlussdeich."

Buntes Insider-Wissen

Warum drehen sich niederländische Pumpwerke linksherum? Wieso gehört die Nordseeinsel Schiermonikoog zu Holland, obwohl sie jahrhundertelang im Besitz deutscher Adeliger war? Weshalb verbrauchen die zugewanderten Amsterdamer mehr Wasser als die einheimischen? Es sind Fragen wie diese, die der umtriebige Autor auf der Rundreise durch seine Heimat stilsicher und mit dem geübten Blick fürs Detail zu beantworten weiß.

Asscher geht sogar soweit, dass er das Wasser zum Grundelement weltweit bekannter niederländischer Charaktereigenschaften wie Toleranz, Offenheit, Handelsgeist und Ironie erklärt. Er zeichnet so gewissermaßen ein "Selbstporträt in Wasserfarben". Denn nicht nur Landschaft, Handel und Freizeit, sondern auch Geschichte, Architektur und politische Kultur wurden vom Wasser entscheidend geprägt.

Identitätsstärkende Katastrophen

Um eine eigene, unverwechselbare Identität zu erlangen, muss ein Land, so der Autor, eine oder mehrere Katastrophen überstehen, aus denen es gestählt hervorgehen kann. In Holland hat zumindest die letzte natürlich mit Wasser zu tun.

Die "Watersnoodramp", die Sturmflut von 1953, forderte 1837 Menschenleben. 67 Deiche brachen unter der Gewalt der eiskalten Wassermassen der Nordsee. Arrogante Fahrlässigkeit gepaart mit gutgläubigem Vertrauen in die eigene Unverwundbarkeit war nicht unwesentlich für das Zustandekommen der Katastrophe.

Der daraufhin ins Leben gerufene Deltaplan mit seinem umfassenden System von Deichen, Dämmen und Schleusen wurde zum eindrücklichen Merkmal der Wiederaufbaumentalität.

In einem Land, das zu einem beachtlichen Teil unter dem Meeresspiegel liegt, besteht allerdings nach wie vor das größte Risiko darin, dass man sich allzu sicher vor dem Wasser fühlt. Doch wie findet man das richtige Maß zwischen Vertrauen und Besorgnis, zwischen Aufklärung und Panikmache, zwischen Unterschätzung und Übertreibung?

Sparen statt Prassen

Was kann man im vernünftigen Umgang mit dem nassen Element von den wassergeplagten Holländern lernen? Zum Beispiel: Duschen statt Baden. Mit den Verbrauchszahlen der Wasserwerke lässt sich eindeutig belegen, dass die Niederländer ersteres vorziehen, ja der Trend zum Duschen sogar noch zunimmt.

Eine perfekte Mischung aus urholländischer Sparsamkeit und modernem Umweltbewusstsein. Außerdem trinken die Holländer liebend gern Leitungswasser, statt abgefülltem Quell- oder Mineralwasser. Obwohl man in Amsterdam etwa ein Geschäft findet, das ausschließlich Wasser aus den exquisitesten Quellen der Welt anbietet, füllen viele nach dem Genuss die trendige, formschschöne Leerflasche mit höchst bekömmlichem Wasser aus dem Hahn.

Ja, so kennen wir unsere Niederländer. Nicht umsonst nannte die Generation meiner Großeltern früher das Leitungswasser liebevoll "Gemeindepils".

Facetteneiche Darstellung

In 18 Kapiteln watet Maarten Asscher mit dem für seine Landsleute typischen selbstironischen Unterton durchs flache, wasserdurchtränkte Land. Er wandert mit einem waschechten Deichgrafen um Den Bosch, besteigt mit seinen Kindern pittoreske Wassertürme, geht gedankenverloren über endlose Strände oder strampelt auf langen Flussbrücken mit dem Fahrrad gegen den Wind.

Anekdotisch und philosophisch, historisch und geopolitisch, psychologisch und soziologisch beschreibt er jenes Land, in dessen Staatswappen geschrieben steht: "Ich halte durch!" Wer bis zum Ende durchhält - und das ist angesichts des vergnüglich-leichtfüßigen Schreibstils nicht allzu schwer - hat einiges über Wasser erfahren und ist dem Wesen der Holländer doch ein beträchtliches Stück nähergekommen.

Meine ideale Leserin könnte Prinzessin Máxima sein, die 2007 erklärte, sie habe, trotz sieben langen Jahren der Suche und trotz Mithilfe von vielen Menschen, diese niederländische Identität noch immer nicht finden können.

Service

Maarten Asscher, "H2Olland. Wie die Niederländer das Meer besiegten", aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas, Sammlung Luchterhand

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