Reportage aus dem Ruhrgebiet
Europas 53 Kulturhauptstädte
Das Ruhrgebiet gehört in diesem Jahr gemeinsam mit den Städten Istanbul und dem ungarischen Pecs zu den europäischen Kulturhauptstädten. Mit einem vergleichsweise geringen Budget von 62 Millionen Euro ist das Projekt "Ruhr 2010" äußerst erfolgreich.
8. April 2017, 21:58
Kulturjournal, 30.08.2010
4,8 Millionen Menschen haben im ersten halben Jahr die Veranstaltungen besucht, neue Museen sind entstanden, unzählige Kreativzentren geschaffen worden und die Zahl der ausländischen Touristen ist um 90 Prozent gestiegen.
Hohe Kulturdichte
Fritz Pleitgen, der Chef des Kulturhauptstadtjahres Ruhr 2010, kämpft immer noch gegen das alte Image des Ruhrpotts an, dabei sei die Luft schon lange nicht mehr stickig und die Böden nicht mehr vergiftet, wie er betont. Im Gegenteil, versichert Pleitgen, verfüge das Ruhrgebiet mit über 100 Theatern, mehr als 200 Museen, 250 Festivals und mehr als 1.000 Industriedenkmälern über die größte Kulturdichte ganz Deutschlands.
Ein Ballungsraum
Pleitgen hat die Chance und die Aufgabe, die Welt in diesem Jahr auf die versteckten Schönheiten des Ruhrgebietes aufmerksam zu machen. Auf dieses 4.5000 Quadratkilometer große Gebiet, mit seinen fünf Millionen Einwohner/innen und 53 Städten, die von erstaunlich viel Grün umgeben sind und die an den Rändern zusammenwachsen - zu einer großen Metropole. Städte wie Essen, Bochum, Dortmund oder Düsseldorf, aber auch Xanten, Schermbeck oder Castrop-Rauxel. Sie alle sind Teil der Kulturhauptstadt.
Die Dinge sind nicht, was sie scheinen
"Wo man nicht dem Schein erliegt", singt Herbert Grönemeyer in seiner Ruhr 2010 Hymne. Allerdings erliegt man hier sehr wohl dem Schein und auch den Kern erkennt man nirgends auf Anhieb. Denn die alten Hütten, Hochöfen und Industriehallen sind längst nicht mehr das was sie einmal waren.
Die alte Gebläsemaschinenhalle Bochum ist heute als Jahrhunderthalle ein beliebter Aufführungsort für Konzerte, die ehemalige Erzbahntrasse dient als Fahrradweg, das Brauereigebäude Dortmunder U ist heute ein Kultur und Kreativzentrum, die Synagoge in Essen ein Ausstellungshaus und eine ehemalige Getreidemühle in Duisburg beherbergt heute Kunst der deutschen Nachkriegszeit. In der Mischanlage der Kokerei Zollverein findet Theater statt und in der ehemaligen Kohlenwäsche ist das Ruhrmuseum untergebracht.
Ruhrblicke
Das Ruhrgebiet hat sich verändert und wie es sich verändert hat, zeigt zum einen das Ruhrmuseum selbst, aber auch die Ausstellung Ruhrblicke, auf dem Gelände des Zollverein Essen. 11 Fotograf/innen, wie Hilla Becher, Candida Höfer, Jörg Sasse oder Andreas Gursky zeigen ihre Sicht auf das Ruhrgebiet.
Industrie und Natur hat sich im Ruhrgebiet zu dem schönen Begriff Industrienatur verbunden - und die findet man vor allem hier. Hier hat sich die Natur die Industriebrachen Stück für Stück zurückerobert. Fauna und Flora haben sich an die veränderten Lebensbedingungen angepasst und außergewöhnliche Ökosysteme sind entstanden. Auch das zeigt die Ausstellung Ruhrblicke, die noch bis 24. Oktober zu sehen ist.
Bildgeschichte eines Genres
Während die Menschen auf diesen Fotos fehlen, stehen sie bei der Fotoausstellung im neuen Folkwangmuseum Essen im Mittelpunkt.
"A Star is born" ist der Titel. Gezeigt werden Fotos aus der Pop und Rockgeschichte, von Elvis und den Beatles, bis hin zu Coldplay oder Marylin Manson. Wie hat sich David Bowie inszeniert, wie haben die Beatles ihr Image geschaffen, wie wurde Kurt Cobain zur Ikone. Paparazzifotos, Porträtaufnahen, Konzertmitschnitte und Plattencover werden da gezeigt. Kuratorin Ute Eskilden zeigt die Bildgeschichte eines Genres.
Publikumshit Folkwangmuseum
Das Folkwangmuseum ist einer der Gebäude, die anlässlich des Kulturhauptstadtjahres eröffnet wurden. 55 Millionen hat die Krupp Stiftung dafür bereitgestellt. In nur 23monatiger Bauzeit wurde das angeblich schönste Museum der Welt von David Chipperfield mit 16.000 Quadratmeter Nutzfläche errichtet.
Die erste Ausstellung im Folkwangmuseum war mit 350.000 Besuchern einer der Besuchermagneten des Kulturhauptstadtjahres. Jetzt im Sommer sind die Warteschlangen generell kürzer, spätestens im Herbst, wenn man eine große Impressionistenschau zeigt, werden die roten Absperrschleusen vermutlich wieder ihren Zweck erfüllen.
Megaprojekte
2.500 Veranstaltungen tragen in diesem Jahr den Kulturhauptstadt-Stempel. Aber es sind die Megaprojekte, mit denen die Ruhr 2010 auf sich aufmerksam macht. Etwa das große Volks-und Kulturfest auf der A40 - der Autobahn zwischen Duisburg und Dortmund, das Ruhrattoll - eine Installation auf dem Baleneysee, das Theaterprojekt Odysee Europa oder der Day of Song - das angeblich größte Chorprojekt aller Zeiten.
Eine Mammutveranstaltung freilich hat einen großen Schatten auf das Jubeljahr geworfen: Die Loveparade in Duisburg, bei der 21 Menschen bei einer Massenpanik zu Tode kamen. Pleitgen vergisst nicht, darauf hinzuweisen, dass die Veranstaltung kein originärer Programmpunkt des Kulturhauptstadtjahrs war.
Schwindende Bevölkerung
Über Kultur und Kunst Anreize für Kinder und Jugendliche zu schaffen, sich mit ihrer Heimat, ihrer Umgebung auseinanderzusetzen, das ist ein wichtiges Anliegen der Ruhr 2010. Das spezielle Programm umfasst ein Kinder-Opernprojekt zu Hans Werner Henze, Museumslabors und Stadtführungen, das Kindertheaterprojekt Pottification oder die Einrichtung des Rockbüros, das in einem Container hinter dem Folkwangmuseum eingezogen ist.
Die Arbeitslosenquote ist im Ruhrgebiet besonders hoch. Viele Jugendliche ziehen in größere Städte, soziale Brennpunkte gibt es hier genügend. Einige dieser Brennpunkte sollen durch das Projekt Kreativ Quartiere aufgewertet werden. Man will den Zuzug von ausländischen Kreativen fördern und die eigenen Hochschulabsolventen oder Schüler zum Bleiben einladen.
Mustafa Tazeoglu ist Projektleiter des Projekts Kreative Quartiere, das in zehn Städten aktiv ist: "Wenn wir in zwei oder drei erfolgreich sind, ist das schon ein riesen Erfolg". Damit findet aber auch eine soziale Umstrukturierung statt - und die Immobilien in den neue aufgewerteten Vierteln sind für die ursprünglichen Bewohner kaum noch leistbar. Stichwort: Gentrifizierung.
Unsichere Perspektiven
Ernst Kratzsch, der Stadtbaurat von Bochum, sieht diese Gefahr, sieht aber auch kaum Alternativen. Andernfalls drohten bei rapide schrumpfender Bevölkerung innerstädtische Brachen.
Kreativwirtschaft und Kulturtourismus fördern, für sozialen Zusammenhalt und Vielfalt der Kulturen sorgen, das Interesse der Bürger in ihren Städten wecken und langfristige kulturelle Entwicklungen förderen - all das sind Aufgaben und Ziele der Kulturhauptstadt, die eigentlich eine Städtelandschaft ist.
Tatsache ist, dass die meisten der 53 Städte aufgrund der Wirtschaftskrise einen Nothaushalt führen und sich gerade in diesem Jahr - budgetär verausgabt haben. Kultur könnte daher im kommenden Jahr auf Sparflamme gehalten werden.
In diesem Jahr ist der Funke der Begeisterung so scheint es übergesprungen - ob er allerdings nur ein Strohfeuer entfacht, das bald erlischt oder einen kulturellen Flächenbrand in Gang setzt, auf dass die Ruhrregion weithin sichtbar leuchte, das bleibt abzuwarten.