Eine Familiengeschichte von Erich Hackl
Familie Salzmann
Man kann es kaum glauben. Fast vier Jahre lang wird ein junger Mitarbeiter von Arbeitskollegen und Vorgesetzten gemobbt, mit untergriffigen Bemerkungen wegen seines Namens und seiner Familiengeschichte gequält.
8. April 2017, 21:58
Einem Kollegen gegenüber hatte der damals 24-jährige Hanno Salzmann erwähnt, seine Oma sei im KZ Ravensbrück umgekommen. Der Nachname "Salzmann" sowie dieser eine Satz haben ausgereicht, um ein paar Mitarbeiter der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse in Graz Rückschlüsse ziehen zu lassen: Hanno Salzmann müsse ein Jude sein.
In der Folge wird er von einem Kollegen täglich mit "Schalom" gegrüßt, er wird beleidigt mit Sätzen wie "Warum lachst du so blöd, du Schwein". Es nützt ihm auch nichts, wenn Hanno Salzmann erwidert: Ich bin kein Jude. Skandalös, dass so ein Bekenntnis in den 1990er Jahren überhaupt nötig ist. Schließlich, im Jahr 1997 wird Hanno Salzmann fristlos entlassen.
Hanno Salzmanns Familienhistorie
Simon Wiesenthal weist den damaligen Bundeskanzler Viktor Klima auf die Vorkommnisse in der SPÖ-nahen Organisation hin. Wiesenthals Intervention bleibt ohne Konsequenzen. Hanno Salzmanns Demütigungen bei der Grazer Gebietskrankenkasse halten sich bis heute als Trauma.
Mit diesem Ereignis beginnt und endet Erich Hackls "Erzählung aus unserer Mitte". Dazwischen, auf knapp 180 Seiten, dokumentiert der Autor Hanno Salzmanns Familienhistorie. Der Blick zurück in die Vergangenheit umfasst die Lebensgeschichte der Großeltern und die des Vaters, reicht von der Zwischenkriegszeit bis in die 1990er Jahre. Ganz im Sinn von Heinrich Heines Satz: "Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen, ihn müssen wir erforschen, um zu wissen, was der morgige will."
Ganz in diesem Sinn verwandelt Erich Hackl nach gewissenhafter Recherche Begebenheiten aus der politischen Geschichte Österreichs und Deutschlands in beklemmend dokumentarische Literatur.
Arbeit für die KPD
Das herrschende Unrecht. Es erkennen und zu deuten wissen. Für Hugo Salzmann gab es, scheint's, nie einen Moment des Zögerns oder Zweifelns, auch nicht der Versuchung, die gesellschaftlichen Verhältnisse als naturgegeben hinzunehmen.
Hugo Salzmann war Organisationsleiter der Kommunistischen Partei Deutschlands sowie politischer Leiter des "Antifaschistischen Kampfbundes". Er und die Österreicherin Juliana Sternad lernten sich in der Zwischenkriegszeit kennen und lieben. Sie heiraten, 1932 kam ihr gemeinsamer Sohn zur Welt. 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, mussten beide Deutschland verlassen und flohen ins französische Exil, nach Paris. Sechs Jahre lang lebten sie in äußerst dürftigen Verhältnissen und arbeiteten für Exil-Organisationen der KPD.
Im September 1939 sahen sich Juliana und Hugo Salzmann zum letzten Mal: Zu Kriegsbeginn wird Salzmann von der französischen Polizei verhaftet und als feindlicher Ausländer ins berüchtigte Internierungslager Le Vernet verschleppt. Später, als die Nationalsozialisten in Frankreich einmarschieren, wird er von der französischen Vichy-Regierung an die Gestapo ausgeliefert, inhaftiert und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.
"Ich erfinde nicht, ich finde lieber"
Seine Frau, der es gelingt, ihren gemeinsamen Sohn durch Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes zu ihrer älteren Schwester nach Österreich zu schicken, wird 1940 in Paris von der Gestapo ebenfalls verhaftet, sie kommt ins Gefängnis nach Koblenz, später wird sie ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück überführt. Dort stirbt sie im Dezember 1944.
Salzmann stockte der Atem bei der Vorstellung, dass jemand weit weg seinen Beistand suchte. Wer, wenn nicht Juliana, die in Lebensgefahr schwebte. Oder war es doch nur Einbildung, Überreizung der Nerven?
Erich Hackl erzählt, was mit Fakten zu belegen ist. "Ich erfinde nicht, ich finde lieber", hat er einmal in einem Interview gesagt. Die Quellen für die Lebensgeschichte von Juliana und Hugo Salzmann sind Briefe - etwa Julianas Briefe aus Koblenz und Ravensbrück -, sind Fotos, Dokumente, Aufzeichnungen von Zeitzeugen, selbst verfasste Berichte der Protagonisten, etwa jener von Hugo Salzmann über die Zeit des Exils und der Gefangenschaft.
Und natürlich sind es auch mündliche Zeugnisse. Acht Jahre lang hat Erich Hackl in unregelmäßigen Abständen den Sohn von Hanno und Juliana getroffen.
Literarisch gefüllte Lücken
Was nicht zu belegen ist, Leerstellen und Lücken in den Biografien, legt Erich Hackl offen. So beginnen viele Sätze mit "Unbekannt" - Zitat: Unbekannt, wie er und Juliana zueinander fanden - oder "Vermutlich".
Vermutlich hatte die junge Frau, auf ihrer Suche nach einer Anstellung, in Erfahrung gebracht, dass Arbeitsuchende in Bad Kreuznach nicht gleich in die nächste Gemeinde abgeschoben, sondern für ein paar Tage mit Kost und Quartier versorgt wurden.
Oder "Anzunehmen".
Anzunehmen, dass ihr dort geraten wurde, sich im Rathaus zum Stadtverordneten Salzmann durchzufragen.
Die Geschichte der Linken
Einen Beitrag zur Geschichte der Linken zu leisten, zu ihrer inneren, individuellen Geschichte, das ist eines der Anliegen von Erich Hackl. Nicht die Opportunisten oder Verbrecher interessieren ihn. Seine Zeit und Arbeit, - Erich Hackl hat an dieser Erzählung zwei Jahre lang geschrieben - widmet er jenen, die die Verhältnisse nicht als naturgegeben hinnehmen; Menschen, die Verfolgten Schutz bieten. Der Familie Kreuz etwa, bei der Hugo Salzmann Unterschlupf findet, als er 1933 von den Nationalsozialisten gesucht wird.
Salzmann stand oder hockte in der Mansarde der Familie Kreuz. (...) Schmerzhaft auch die Angst der alten Frau, Heinrichs Schwiegermutter, die stöhnte, o Gott, o Gott, wenn man sie hier findet, ist alles aus. Für ihre Tochter, ihren Enkel, ihren Schwiegersohn. Für sie. Und wäre doch nie auf den Gedanken gekommen, ihn auszuliefern.
Sich raushalten
Auch Ernestine, Juliana Salzmanns Schwester, muss mit Widerständen in ihrer steirischen Gemeinde rechnen, als sie 1940 den Sohn ihrer kommunistischen Schwester bei sich aufnimmt. Dennoch zögert sie nicht. Sich gegen die herrschenden Verhältnisse zu stellen oder sie geschehen zu lassen: Vor diese Entscheidung kann man zu allen Zeiten gestellt werden. Auch in den 1990er Jahren, zum Beispiel in einem Unternehmen, in dem ein Kollege einem skandalösen Mobbing ausgesetzt ist.
Der Praktikant Jandl verfasste ein Protokoll am letzten Abend seines Arbeitstages. Jetzt kann mir nichts mehr passieren, sagte er zu Hanno. Davor hatte er zu Prammers Angriffen und Kropfs Weghören ebenso fassungslos geschwiegen wie Hannos Kollege Berger. "Berger war zur Zeit dieser Vorfälle im Zimmer anwesend. Er verhielt sich ruhig, war allerdings, wenn wir nur zu dritt waren, zutiefst enttäuscht und verurteilte diese bewusst gesteuerten Angriffe."
Das Trauma des Sohnes
Den Konsequenzen traumatischer Erfahrung geht Erich Hackl in seiner Erzählung ebenfalls nach. Hugo Salzmanns Vater wird nach Kriegsende aus dem Gefängnis befreit. Ein paar Monate zuvor ist seine Frau im Konzentrationslager Ravensbrück umgekommen. Er kehrt nach Deutschland zurück und arbeitet für die KPD, heiratet erneut, wird Vater einer Tochter und holt erst 1948 seinen Sohn aus der Steiermark zu sich nach Deutschland. Da ist Hugo Salzmann junior 16 Jahre alt. Er war sieben, als er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte.
In Hugos Leben wäre vieles anders gekommen, wenn sein Vater ihn je beiseite genommen hätte. Sechs, acht oder zehn Jahre später, als alles vorüber und doch nicht zu Ende war. Wenn er zu ihm gesagt hätte, jetzt will ich dir mal erzählen, wie es mir ergangen ist. Damit du manches begreifst. Die Ungeduld, die Härte, die Reizbarkeit. Man nimmt ja auch Schaden.
Unverständnis und Sprachlosigkeit
Der Sohn wird in seiner neuen Familie in Deutschland wenig freundlich aufgenommen. Er wird mehr geduldet als geliebt. Anfang der 1950er Jahre geht Hugo Salzmann junior freiwillig in die DDR.
Es folgen zwölf wacklige Jahre, in denen Hugo damit befasst war, den erträumten in den erlebten Sozialismus einzupassen.
Den Konflikt zwischen Vater und Sohn, das Unverständnis und die Sprachlosigkeit werden von Erich Hackl nicht analysiert, nicht interpretiert, auch nicht beurteilt. Er stellt die Ereignisse so dar, wie sie von seinem Gewährsmann Hugo Salzmann geschildert werden. Die traumatischen Erfahrungen mussten unverarbeitet ins Leben nach dem Krieg mitgenommen werden - und dort wirkten sie weiter.
Auch dann wäre Hugos Erwachsenenleben anders verlaufen: Wenn sein Vater zu ihm gesagt hätte, nun erzähl du mal. Wie es dir ergangen ist. Weil ich wissen will, was ich alles versäumt habe.
Privates und politisches Leben
1965 nützt Hugo Salzmann junior eine Ausreiseerlaubnis aus der DDR, um sich mit seiner Familie nach Österreich abzusetzen. Und hier wird Hanno Salzmann geboren, jener Hanno, der sich in den 1990er Jahren als Kanzleikraft bei der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse in Graz bewirbt.
Drei Generationen, die fast das gesamte 20. Jahrhundert umspannen, dazu die entscheidenden politischen Umwälzungen: das alles findet sich in dem schmalen Band. In einer - schon mehrfach gelobten - lapidaren, kühlen Prosa gelingt Erich Hackl die Verzahnung von privatem und politischem Leben. Er erzählt weitgehend chronologisch, wechselt allerdings von Schauplatz zu Schauplatz, wenn die Geschichten der drei Hauptprotagonisten auseinanderlaufen. Von Hugo Salzmann, zu Juliana und weiter zu ihrem gemeinsamen Sohn. Hackl arbeitet hier mit pointierten Andeutungen, mit Schnitten an entscheidenden Punkten, sodass die Spannung bis zum Schluss aufrecht bleibt.
Es ist eine genau komponierte Erzählung, die sich auch in der Kunst der Verknappung übt, üben muss, will sie sich die wesentlichen Aspekte der Familiengeschichte konzentrieren.
Literatur der Ernsthaftigkeit
Hackls Bücher wurden als große zeitgenössische Literatur der Ernsthaftigkeit bezeichnet. Ernsthaft im Anliegen, genau in der Recherche, konsequent in der Vermeidung von Pathos und nahe an den Fakten. Nur einmal stellt er die Überlegung an, wann eine Abweichung von den Tatsachen angebracht sein könnte. Und zwar anlässlich der Darstellung von Julianas Tod in einer Erinnerungsschrift, die ihre Freundin und Genossin Lore Wolf verfasst hat.
Zweifelhaft allerdings, ob Lore (...) auch gehört hat, dass Häftlingsfrauen die Tote mit Blumen schmückten, die sie unter Einsatz des eigenen Lebens besorgt hatten, dass das verstehende Lächeln, das Juliana im Leben so anziehend machte, auf ihrem Gesicht lag. (...) Stellt sich die Frage, ob Lores Darstellung weniger den erinnerten Tatsachen folgt, als dem Bedürfnis, das elende Sterben ihrer Freundin aufzuwerten. Und die zweite Frage, was daran falsch wäre.
Bleibt offen, ob ein Autor, dessen Werk von Verantwortung gegenüber den Erinnerungen seiner Informanten geprägt ist, ob sich so ein Autor selbst das eine oder andere Mal eine Abweichung von den Fakten erlaubt. Und die Frage, was daran falsch wäre.
Service
Erich Hackl, "Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte", Diogenes Verlag
Diogenes - Familie Salzmann