Anhaltende EU-Debatte in der Schweiz
Partnerschaft mit Schwierigkeiten
Die Schweiz will der EU nicht beitreten, hat aber schon mehr als 120 bilaterale Abkommen mit der EU geschlossen, um sich dennoch wirtschaftlich und politisch in Europa zu integrieren. Mittlerweile werden Brüssel die helvetischen Extrawürste aber zu viel.
8. April 2017, 21:58
Die EU verlangt, dass die Schweiz nicht mehr so wie bisher à la carte Verträge mit der EU abschließen kann, sondern so wie die EU-Mitgliedsländer auch das sich laufend ändernde europäische Recht übernehmen muss. Dieser Angriff auf die eidgenössische Souveränität hat in der Schweiz eine heftige EU-Debatte ausgelöst. EU-Befürworter und -gegner kämpfen lauthals für ihre Positionen, die Regierung will weitermachen wie bisher.
EU-skeptische Eidgenossen
Es gibt wohl kaum ein Thema, das in der Schweiz so polarisiert wie das Verhältnis der Eidgenossen zur EU. Dabei ist die Schweiz gar nicht Mitglied der Europäischen Union, und daran dürfte sich noch lange Zeit nichts ändern. Angesichts der jüngsten Schulden- und Eurokrise sind die Schweizer EU-skeptischer denn je. Einen Beitritt zur EU können sich nur wenige vorstellen - dass es dann mit der Eigenständigkeit vorbei wäre, wird kritisiert, und dass zu viel von Brüssel bestimmt werde.
Laut Umfragen sind zwei Drittel der Schweizer gegen einen EU-Beitritt ihres Landes. Und trotzdem wird in diesen Tagen heftig über die komplizierte Beziehung der Schweiz zu Europa, in dessen Mitte sie liegt, debattiert. Auslöser der neu aufgeflammten Europa-Diskussion war ein Besuch von Bundespräsidentin Doris Leuthard vor wenigen Wochen in Brüssel.
Dort machte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso keinen Hehl daraus, dass das Spezialverhältnis zur Schweiz zunehmend mühsam werde: "Wir finden, dass die bilateralen Verträge sehr komplex geworden sind, und manchmal sehr kompliziert zu verwalten."
Streit um Automatismus
Barroso spricht damit die mehr als 120 bilateralen Verträge an, die die Schweiz mit der EU geschlossen hat, um sich auch ohne Mitgliedschaft politisch und wirtschaftlich zu integrieren. Dazu gehören Wirtschafts- und Verkehrsabkommen, aber auch der Beitritt zum Schengen-Raum. Dabei akzeptiert die Schweiz nur das zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltende EU-Recht, nicht aber dessen Weiterentwicklung.
Diese Bevorzugung des Nicht-Mitglieds Schweiz ist vielen EU-Ländern längst ein Dorn im Auge. Sie und auch die EU-Kommission pochen darauf, dass die Schweiz bei Vertragsabschlüssen gleich auch die künftige Weiterentwicklung von EU-Recht übernimmt.
Die Regierung in Bern lehnt einen solchen Automatismus aber ab: Er sei mit der Souveränität des Landes nicht vereinbar, betont Bundespräsidentin Doris Leuthard: "Als autonomes, souveränes Land muss man hier Prozeduren definieren - aber ein Automatismus? Ich glaube, auch Österreich würde nicht akzeptieren, dass Schweizer Recht in Österreich automatisch gilt."
Festhalten am bilateralen Weg
Trotzdem, die Regierung sucht nach neuen Wegen, die Schweizer Interessen zu wahren, und trotzdem schneller auf Neuentwicklungen des EU-Rechts zu reagieren. Am sogenannten bilateralen Weg will die Regierung aber festhalten. So könne die Schweiz ihre Interessen am besten wahren, sagt Bundespräsidentin Leuthard und meint, die Schweiz habe allen Grund, gegenüber Brüssel selbstbewusst aufzutreten - so sei die Schweiz nach der USA der zweitwichtigste Handelspartner der EU.
Auch die Schweizer Wirtschaft will weiterhin auf bilaterale Abkommen mit der EU setzen. Zu viele Vorteile würde man bei einer zu festen Anbindung an die EU verlieren, sagt Gerold Bührer, Präsident des Wirtschaftsdachverbandes economiesuisse: "Wir haben durch den bilateralen Weg in wichtigen Bereichen wie der Steuerpolitik, dem flexiblen Arbeitsrecht und der Außenhandelspolitik Handlungsspielräume, die wir sonst nicht hätten."
Doch Neuausrichtung?
Auch wenn die Schweiz am Sonderweg der bilateralen Abkommen festhalten will, die Debatte über eine Neuausrichtung der EU-Politik ist schon in vollem Gange. Für die Präsidentin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS), Christa Markwalder, ist eines klar: Um ihre Souveränität zu wahren, muss die Schweiz endlich der EU beitreten. Nur so, meint Markwalder, könne sie in Europa auch mitbestimmen.
Es habe eine "kalte" Integration stattgefunden, die Schweiz sei de facto zu einem Mitglied geworden, erklärt Markwalder, aber im Unterschied zu den anderen Mitgliedsstaaten habe die Schweiz kein Stimmrecht in den europäischen Institutionen. Die NEBS setze sich daher für eine aktive Mitgliedschaft mit einem Stimmrecht ein.
Umstrittener EWR
Andere Stimmen wollen nicht ganz so weit gehen und lassen den tot geglaubten Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR wieder aufleben. Vor 18 Jahren haben die Schweizer Stimmbürger den EWR-Beitritt abgelehnt, heute könnte er ein gangbarer Kompromiss sein, findet Katja Gentinetta von der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Avenir Suisse: Der EWR sei nach wie vor eine realistische Option, die Schweiz würde einen großen Teil des Binnenmarktrechts übernehmen - aber sie würden den Schweizer Franken beibehalten.
Auch für die Regierung ist eine Annäherung an den EWR eine Möglichkeit, die Beziehungskrise zur EU zu lösen, wie Bundespräsidentin Doris Leuthard im Gespräch mit dem ORF betont: Der EWR sei in der Schweiz abgelehnt worden und in der jetzigen Form - wie er mit Norwegen bestehe - nicht denkbar, da er auch die Dienstleistungen umfasse - aber rein vom Mechanismus her sei es druchaus eine mögliche Entwicklung.
"Ein Kolonialvertrag"
Nichts von alldem wissen will naturgemäß Christoph Blocher, Chefstratege und Volkstribun der EU-feindlichen Schweizerischen Volkspartei. Immerhin hat er im Jahr 1992 den Abstimmungskampf gegen den EWR-Beitritt angeführt und gewonnen. Die Anti-EU-Politik ist einer der Grundpfeiler der SVP, die mittlerweile die stimmenstärkste Partei des Landes ist.
Blocher will weiterhin bilateral mit der EU verhandeln und hält den EWR für ein Schreckgespenst für die helvetische Eigenständigkeit: "Der EWR bestimmt, dass in einem großen Teil der Rechtsgebiete die EU für die Schweiz bestimmt, ohne dass wir etwas zu sagen haben - das ist ein klassischer Kolonialvertrag."
Die EU werde damit leben müssen, dass es auch Staaten gäbe, die unabhängig sein wollten: "Wir tun ja nichts gegen die Europäische Union - wir sollen nur nicht Mitglied sein", meint Blocher.
Bitte warten!
Die Debatte über die Europapolitik, die lange Jahre als Tabu gegolten hat, spaltet einmal mehr das Land. Bis Jahresende soll eine Arbeitsgruppe mit Experten der EU und der Schweiz Wege aus der Beziehungskrise finden. Schnelle Lösungen sind aber nicht in Sicht.
Die Regierung weiß um die große EU-Skepsis unter den Schweizern. Zudem ist das politische Klima im Vorfeld der Parlamentswahlen im nächsten Jahr aufgeheizt und gehässig, und die Regierung wird sich hüten, ausgerechnet jetzt in der emotionalen Europafrage Entscheidungen zu treffen. Fest steht nur eines: Einfacher wird der helvetische Spagat zwischen Integration und Abseitsstehen in Europa nicht werden.
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