Ein Wegweiser durchs Wirrwarr

Wenn die Seele leidet

Noch nie gab es ein so breites psychotherapeutisches Angebot wie heute. Und noch nie waren so viele hilfesuchende Menschen so verwirrt. Borwin Bandelow, Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen, kennt die Unübersichtlichkeit der Szene im Jahr 2010.

Claudia G., eine Sekretärin, hat Panikattacken. Ihre Hausärztin empfiehlt Johanniskraut, der Psychiater ein Antidepressivum, die junge Psychologin eine Verhaltenstherapie, der ältere weißhaarige Psychologe eine Psychoanalyse, die Heilpraktikerin homöopathische Kügelchen und der braungebrannte, graumelierte, aber jugendlich wirkende Softie-Tanzlehrer Power-Yoga-Übungen. In der Psychologiezeitschrift werden Mindfulness-Therapie, Reiki, körperorientierte Therapie oder Biofeedback angeboten. Wie kann Claudia G. wissen, welche Therapie für sie die beste ist?

An Menschen wie Claudia G. wendet sich Borwin Bandelow mit seinem Buch. Auf anschauliche, auch für Laien verständliche Weise stellt der Göttinger Professor die verbreitetsten psychischen Leiden dar - von "Depression" bis "Zwangsstörung", von "Eßstörungen" bis zu "Drogensucht".

In einprägsamen Fallbeispielen illustriert Bandelow Entstehung und Verlauf der jeweiligen Leiden, dann diskutiert er die gebräuchlichsten Behandlungsmethoden, wobei die Grundposition des Göttinger Psychiaters eine postfreudianische zu sein scheint. Soll heißen: Bandelow gibt medikamentösen Behandlungsmethoden den Vorzug, je nach Leiden empfiehlt er aber auch familien- und vor allem verhaltenstherapeutische Ansätze.

Angst und andere Zustände

Seit er im September 2004 das "Angstbuch" vorgelegt hat - einen Bestseller -, ist Borwin Bandelow so etwas wie die Wunderwaffe des Rowohlt-Verlags in der Sparte Sachbuch, Unterabteilung "Manien, Macken und Marotten".

Sein überragendes Talent, komplexe Sachverhalte auf unterhaltsame Weise darzustellen, macht auch Bandelows jüngstes Buch zu einer anregenden, streckenweise sogar kurzweiligen Lektüre. Selbstverständlich präsentiert der Göttinger Psychiater auch aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung.

Ein Gehirn wiegt etwa 1,3 Kilogramm, sieht aus wie ein Haufen Weißwürste und hat die Konsistenz eines nicht zu hart gekochten Eies. Es besteht aus einem Kabelsalat von hundert Milliarden Nervenzellen, den Neuronen. Würde man die Kabelstränge aller Flugzeuge der Welt in eine riesige Halle packen, so hätte man eine ungefähre Vorstellung von dem Gewirr, das in einem einzigen menschlichen Gehirn herrscht. Die Nervenzellen, deren Körper wie längliche Schläuche aussehen, sind auf vielfältigste Weise miteinander verbunden. Viele dieser Leitungen verlassen das Gehirn in Richtung Arme, Beine, Gedärme, Organe und aller sonstigen Gebiete. Andere kommen von diesen Teilen des Körpers und schlängeln sich zum Gehirn zurück.

Die Macht der Botenstoffe

Vereinfacht gesagt steuern drei Bereiche im Gehirn das Verhalten eines Menschen: das Angstsystem, das Belohnungssystem und das Vernunftsystem. Dabei spielen Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin oder die verschiedenen Endorphine eine wichtige Rolle. Gibt es zu viel oder zu wenig von dem einen oder anderen Botenstoff, kann man an Ängsten, Süchten oder Depressionen erkranken. Bei allen Suchterkrankungen zum Beispiel spielt das Belohnungssystem eine zentrale Rolle.

Das Belohnungssystem ist ein kurzer, dicker Nervenstrang im Gehirn (...). Wenn es angefeuert wird, fühlen wir uns gut. Alle schönen Dinge des Lebens empfinden wir deshalb als angenehm, weil sie zu einer Aktivierung des Belohnungssystems führen: Beischlaf, gebratenen Speck essen, ein kühles Bier trinken, eine Belobigung durch die beste Ehefrau aller Zeiten vernehmen, das eigene Baby in der Wiege anschauen, Basketball spielen, Gänsehaut-Musik hören (...), sich auf der Toilette erleichtern oder einen unerwarteten Sprung der Börsenkurse nach oben beobachten.

Angst versus Vernunft

Auf hormoneller Ebene sind Endorphine für Glücksgefühle verschiedenster Art zuständig. Ist das Endorphin-System gestört, kann es zu Suchterkrankungen, aber auch zu Ess- oder Borderline-Störungen kommen. Für Angst-Erkrankungen wiederum ist - man dachte es sich schon - das Angstsystem zuständig.

Wenn Sie auf einem Zehnmeterbrett stehen, sagt Ihr Angstsystem: "Spring nicht!" Das Vernunftsystem sagt: "Es kann doch nichts passieren." Je nachdem, wie energisch sich das Angstsystem durchsetzen kann, springen Sie - oder nicht!

Angststörungen sind das am weitesten verbreitete psychische Leiden. Im Zeitraum eines Jahres erkranken 18 Prozent der Bevölkerung an einer Angststörung, 12 Prozent davon bedürften therapeutischer Behandlung, weitaus nicht alle erhalten sie. Borwin Bandelow empfiehlt eine Verhaltenstherapie, unter Umständen kombiniert mit Medikamenten - das verspreche optimale Heilungschancen. Denn so verbreitet Angsterkrankungen sind, so gut therapierbar sind sie auch.

Bandelows 400-Seiten-Buch fasst den aktuellen Stand der psychiatrischen Forschung auf eine auch für Laien verständliche Weise zusammen. Das perfekte Hausbuch für den familiären Bücherschrank.

Service

Borwin Bandelow, "Wenn die Seele leidet. Psychische Erkrankungen: Ursachen und Therapien", Rowohlt Verlag

Rowohlt - Borwin Bandelow