Dem Geheimnis der Gene auf der Spur

Das Buch Ich # 9

Richard Powers ist der neunte Mensch auf dieser Erde, dessen Genom vollständig entschlüsselt wurde: Er ist damit einer der wenigen, die im Detail wissen, welche Erbanlagen sie besitzen. Powers Reportage über den Selbstversuch wurde zuerst im Magazin "GQ" abgedruckt.

Vom Roman zum Selbstversuch

Der 53-jährige National Book Award Preisträger und Wissenschaftsromancier betrachtete die Entschlüsselung seines Genoms als Recherchemöglichkeit: Als Vorarbeit zu dem Roman "Das größere Glück", der Ende 2009 auf Deutsch erschien.

Der Amerikaner schildert darin ein Szenario aus der nahen Zukunft, in dem die Nachricht, eine Frau sei entdeckt worden, die das Glücks-Gen besitze, zu einer medialen und öffentlichen Hysterie führt, die alle Dementis aus dem wissenschaftlichen Lager unter sich begräbt.

Richard Powers, ein schlaksiger, bubenhafter 53-jähriger Amerikaner aus Illinois mit zugewandter Miene und freundlichem Blick ist nicht nur als Wissenschaftsromancier weltweit bekannt, sondern auch als einer der ersten Menschen, der sein vollständiges Genom sequenzieren ließ.

Die neunte Sequenzierung

Powers fürchtete sich ein wenig vor den Ergebnissen, aber nicht nur das, er hatte auch einwilligen müssen, sie aller Welt mitzuteilen. So wollten das die Financiers des mit 350.000 Dollar ziemlich kostspieligen Unterfangens, die Gen-Firma Knome und das Magazin "GQ". Powers' Reportage erschien dort 2008 unter dem Titel "The Book of Me". Und nun in Buchform auf Deutsch als "Das Buch Ich # 9". Denn der Preisträger des National-Book Award war der neunte Mensch weltweit, der sich dieser Prozedur unterwarf.

Nur drei Menschen - James Watson, J. Craig Venter und ein anonymer chinesischer Wissenschaftler - hatten bisher ihren weitestgehend vollständigen Satz von diploiden Genomen sequenzieren lassen. Ein paar weitere solcher Sequenzen waren in Arbeit. Schon hatte der Wettlauf darum, wer als Erster aus dieser Untersuchung eine Routineangelegenheit machte, begonnen. Das war die Story, um die es mir eigentlich ging: das Entstehen des Begriffs vom vollständigen genetischen Bauplan als Konsumprodukt.

Aber zuerst die Story mit Powers als Untersuchungsobjekt - die wichtigsten Ergebnisse, die er in seinem Buch“ aufzählt: Er hat neun genetische Varianten, die als Anzeichen für ein erhöhtes Darmkrebsrisiko gelten, aber zehn, die auf ein unterdurchschnittliches Risiko verweisen. Acht Prozent seines Erbmaterials ist mit dem der Yoruba in Nigeria identisch. Und angeblich hat er eine Anlage zur Fettleibigkeit.

Das klingt verwirrend und - was die Fettleibigkeit angeht - bei einem ausgesprochen und lebenslänglich leptosomen Mann wie Richard Powers schlicht daneben. Das heißt: die Genetiker können die drei Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms zwar entziffern, aber verstehen kann diesen verschlungenen Text noch niemand. Richard Powers deutet das in seinem Buch an.

Trotzdem bleibt er spürbar ein Enthusiast der Wissenschaften. Er schreibt von seiner Zuversicht, dass die Menschen mit der Entschlüsselung ihres Genoms einen ersten Schritt vollzogen haben, in ihrer Entwicklung "von bloßen Figuren im Buch des Lebens zu Mitautoren".

Genom und Epigenom

Im nächsten Schritt wird die Wechselwirkung zwischen Genom und Epigenom auszuleuchten sein. Der epigenetische Code gleicht einer Software, die den Zellen hilft, die Hardware - also ihre Gene richtig einzusetzen. Es gibt viel mehr komplexe Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Codes, als die Genwissenschaftler der ersten Stunde erwartet hatten. Nicht nur für sie war das eine Enttäuschung, hat Powers erfahren.

"Doch während dieses Bild der komplexen Verwebung von Einflüssen immer klarer hervortritt, scheint die Öffentlichkeit weiterhin fasziniert von der Idee, dass es ein in die Gene eingeschriebenes Schicksal gäbe. Das liegt vielleicht daran liegt, dass wir in einer Konsumgesellschaft leben, in einer Kultur, die Risiko-Management für möglich hält, einer Kultur, die an Kontrolle über Technologie glaubt, die einfach an der Idee festhalten will, dass jedes Schicksal zu managen ist, ", erklärt Powers. "Deshalb wollen große Teile der Öffentlichkeit wissen, welches Schicksal in unsere Gene eingeschrieben ist. Sie hoffen, dass die Geschichte umgeschrieben werden kann - mit einem neuen Ende."

Die Lebensgeschichte umschreiben?

An dieser Stelle ist der Wissenschaftsenthusiast doch skeptisch. Powers hält solche Hoffnungen für verfehlt, denn selbst wenn die Lebensgeschichte eines Tages durch einen Eingriff in die Keimbahn umgeschrieben werden kann, ist immer noch fraglich, ob das die ersehnte Zufriedenheit bringen wird. Der 53-Jährige ist überzeugt, dass wir in Wahrheit nicht Glück, ewiges Leben oder Perfektion suchen, sondern Sinn. Außerdem: Einmal damit begonnen, wird der Wunsch des Menschen nach genetischer Optimierung keine Grenzen mehr kennen.

Das Versprechen der Genetiker lautet: Zuerst entschlüsseln wir das menschliche Genom, um es anschließend neu zu schreiben. Teil eins ist gelungen. Teil zwei liegt in weiter Ferne. Aber zuerst einmal wird Teil eins, die Sequenzierung, immer günstiger. Die Aktion kostete 2008 noch 350.000 Dollar, inzwischen sind es weit weniger als 100.000.

"Die Aussicht, dass die Entschlüsselung in zwei Jahren nur noch 1.000 Dollar kosten wird, ist durchaus realistisch. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass man das bald routinemäßig macht, wenn ein Kind geboren wird", sagt Powers. "Alle Informationen über die drei Milliarden Basenpaare des individuellen Genoms werden dieser Person dann lebenslänglich zur Verfügung stehen. Sie werden Teil des Krankenblattes sein, das wir herumtragen, von der Wiege bis zur Bahre."

Nicht abwegig findet Powers die Vorstellung, wie in Zukunft der Geliebte mit dem Krankenblatt vor seine Angebetete tritt und fragt: Willst Du mich? Oder wie die Ergebnisse der Gen-Analyse ihren Weg ins Internet finden und jeder zu einem offenen Buch wird. Er freut sich schon auf den Stoff für neue Romane. Denn in seinem Erachten sei der Sinn von Literatur, "zu helfen, dass der Mensch seinen technischen Fortschritt aufholt."

Anstrengend, aber wichtig

Dieser Mission folgt auch die Reportage "Das Buch Ich # 9" und unterscheidet sich insofern nicht von Richard Powers klugen Romanen über Quantenphysik, Neurologie oder Informatik. Übelwollende amerikanische Kritiker bezeichnen seine Bücher seit jeher als "brainy" - anstrengend. Und: Ja, das sind sie. Powers erzählt von komplizierten Dingen, die wir aber verstehen sollten, um die Entwicklung unserer Gesellschaften mitbestimmen zu können.

Auch "Das Buch Ich # 9" ist zwar im Unterschied zu Powers Romanen sehr schmal, aber ebenso "anstrengend". An dieser Stelle ist das jedoch unbedingt als Kompliment gemeint.

Service

Richard Powers, "Das Buch Ich # 9: Eine Reportage", aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag

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