"Ich höre das Rad summen"

Herwig Zens über sein liebstes Bild

Ein Bild, das vertraute Sichtweisen schlagartig verändert. Ein Musikstück, das herkömmliche Hörgewohnheiten überraschend erweitert. Ein Film, der zum Weiterdenken anregt, oder ein Buch, das einfach an die Seele geht. Von Entdeckungen mit Nachwirkung, von "Bleibenden Begegnungen" mit Werken kreativer Geister soll in "Leporellos" neuer Serie die Rede sein.

"Zwei Wischer mit dem Pinsel, aber welche!"

Der Erste, der in "Leporello" von einer "bleibenden Begegnung" erzählt, ist der bildende Künstler Herwig Zens. Diese Begegnung" fand vor Jahrzehnten im Museum statt. "Jeder Maler hat gewisse Vorbilder in seinem Leben", sagt Zens, "und ganz oben stehen zwei: Vermeer und Velazquez, zufällig Zeitgenossen. Meinen Studenten habe ich immer gesagt, sie sollen entweder ins Kunsthistorische Museum oder in den Prado gehen, sich das Bild anschauen und den lieben Gott um Verzeihung bitten, dass man jemals einen Pinsel in die Hand genommen hat."

Herwig Zens ist nicht nur Maler, Grafiker und langjähriger Kunstprofessor, sondern auch leidenschaftlicher Kunstreisender. Als solcher besucht er seit seinen Studienjahren immer wieder den Prado in Madrid, um ein ganz bestimmtes Bild zu betrachten: "Die Spinnerinnen" des spanischen Barockmalers Diego Velazquez. Vor diesem Mitte des 17. Jahrhunderts gemalten Werk, das Kunsthistorikern wie Kunstfreunden bis heute Rätsel aufgibt, verharrt Zens mitunter stundenlang, bevor er sich schließlich ehrerbietig verneigt und den Ausstellungsraum wieder verlässt.

Zentral im Vordergrund des Gemäldes befindet sich ein von mehreren Frauen umgebenes Spinnrad. Fest zu stehen scheint, dass Velazquez auf dem Bild das Schicksal der jungen Weberin Arachne gemalt hat, die der Sage nach in einen Wettstreit mit Athene trat und aufgrund dieser Hybris, eine olympische Göttin herauszufordern, in eine Spinne verwandelt wurde.

Bei einem seiner Höflichkeitsbesuche geschah es jedenfalls, dass Herwig Zens, der das Bild bereits in- und auswendig zu kennen meinte, Augen und Ohren aufgingen: "Ich komme dort hin, steht ein einzelner Herr vor dem Bild, und ich bin hinter ihn getreten, auf einmal sagt er zu mir: 'Hören Sie, wie es sich dreht?' Sag ich: 'Wo dreht sich was?' - 'Bitte schauen Sie links das Spinnrad der Athene an!' Und wann immer ich heute dorthin komme, sowie ich den Raum betrete, höre ich das Rad summen. Es kann mir kein Mensch erklären, wie das gemalt ist, niemand weiß das, in der Kunstgeschichte können Sie allen möglichen Blödsinn darüber lesen, aber da ist nichts, es sind nur zwei Wischer mit dem Pinsel, aber welche!"

Wurde Arachne bestraft, weil sie eine Göttin übertrumpfen wollte, so übt sich Herwig Zens in vorauseilender Demut beim Betrachten des Werk seines Säulenheiligen Velazquez: "Ich werde nie mehr in meinem Leben versuchen, ein drehendes Rad darstellen zu wollen, das ist völlig sinnlos, aber es ist immer wieder schön, das anzuschauen und zu sehen, das kannst du nicht, aber vielleicht kannst du ja was anderes. Dann gehe ich meistens schweigend weiter, und in irgendeinem Wirtshaus in Madrid endet die Sache dann..."

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Herwig Zens
Museo del Prado - Bild "Die Spinnerinnen"