Roman von Lydia Mischkulnig
Schwestern der Angst
"Fixiert sein ist irre." Ein Satz nur. Er klingt banal - und hat es doch in sich. Marie ist noch ein Mädchen, als sie ihrer Schwester Renate die Feststellung entgegenschleudert, dass sie sie für verrückt hält. Doch Renate reagiert nicht.
8. April 2017, 21:58
Marie ist so sehr Mittelpunkt ihres Denkens und Tuns, dass sie nicht spürt, wie ihre Zuneigung zur Krankheit wird. Sie verliert ihr eigenes Leben aus den Augen, ihre Gedanken rasen gegen eine Wand.
Der Irrsinn des Fixiertseins
Obsessionen können lange währen. So lange, dass einem angst und bange wird. Das führt auch Lydia Mischkulnig wieder vor. Aus dem Satz vom Irrsinn des Fixiertseins wächst ein beklemmender Roman. "Schwestern der Angst" heißt die Geschichte einer Geschwisterbeziehung, die auf bedrohliche Weise immer mehr entgleist.
Renate, bei den Großeltern aufgewachsen, kommt als kleines Mädchen zu Mutter und Stiefvater zurück. Heile Familie gibt es weder hier noch dort. Als die Mutter dann auch noch bei der Geburt von Marie stirbt, scheint Renate vollends auf sich selbst gestellt. Sie klammert sich an das Kleinkind und sucht es an sich zu ketten. Marie wird ihr Ein und Alles, sie kontrolliert jeden ihrer Schritte, wirft Liebe, Eifersucht und Machtgefühle auf sie.
Ich packte das kleine Luder. Zog ihm die Strumpfhose aus und fesselte seine Füße. Nun schlug der kleine Teufel mit dem Schädel auf den Boden ein. Sie zerkratzte sich das Gesicht. Ich stopfte ihr den Mund mit Himbeeren. Marie hörte zu schreien auf und schmatzte nur genüsslich. Kinder sind polymorph perverse Geschöpfe. Ich konnte ihr meine Finger zwischen die fest aufeinanderbeißenden Kiefer bohren, um den Mund zu öffnen und die süßen Beeren hineinzuzwängen. Meine Gewalt diente als Geschmacksverstärker.
Protokoll eines Missbrauchs
Erst Jahre später kann Marie der familiären Umarmung entfliehen, indem sie sich in Paul verliebt. Sie betritt damit verbotenes Terrain: Paul ist der Mann, den Renate für sich auserkoren hat. Die kleine Schwester schnappt in ihr weg. Marie und Paul werden ein Paar. Renate muss zusehen. Ihre Felle schwimmen davon. Ihre Schwester rebelliert gegen sie, Paul trampelt auf ihren Gefühlen herum. Renate bleibt schließlich allein zurück. Um sich fortan bitter an Marie und der Welt zu rächen.
Lydia Mischkulnigs Roman ist das Protokoll eines Missbrauchs, angesiedelt auf mehreren Ebenen. Renate, die Ich-Erzählerin, kommt nicht los vom Objekt ihrer Begierde. Sie beginnt, ihre Schwester zu verfolgen, sie observiert, quält und verletzt sie. Gleichzeitig setzt sie das Skalpell auch bei sich selbst an. Immer öfter fließt Blut. Angesichts der Hochzeitsanzeige von Marie und Paul nimmt das Leben zu dritt - und als solches zeigt sich diese destruktive Geschwisterbeziehung - immer neue Wendungen.
Ein Messerblock stand da im Kasten auf dem untersten Regalbrett. Ich besaß selbst auch Küchenmesser, aber nicht ein so spezielles wie Marie. Ein Haiku. Dieses Werkzeug meistert den sogenannten ziehenden Schnitt und gleitet durch jedes Schneidgut wie Butter. Ideal für meine gespannte Haut. Es ist äußerst scharf und sollte niemals in Kinderhände geraten. Dieses Messer würde ich mitnehmen. Die Klinge schimmerte wie durchsichtig im Licht. Jahrelang hatte ich mich beherrschen können, der Berührung mit Messern zu entsagen. Mit der Hochzeitsanzeige vor Augen jedoch setzte ich das Messer an meinen kleinen Finger.
Ungeheurliches ohne große Worte
Lydia Mischkulnig hat längst Sprache und Stil entwickelt, die unverwechselbar sind. Ihre Prosa bleibt lakonisch, das Ungeheuerliche präsentiert sich ganz selbstverständlich, ohne große Worte. Der Witz bricht die Drastik. Die Szenerien der Rache kippen ins Surreale und werden zur Gratwanderung zwischen zerstörerischen Phantasien und kaltblütiger Entschlossenheit.
Wie verrückt ist die Ich-Erzählerin wirklich, wie sehr verliert sie sich ans Erzählen, wo folgt sie dem, was tatsächlich passiert ist? Die Autorin hält ihr Buch in der Schwebe. Und das ist eines der Merkmale der Literatur von Lydia Mischkulnig: Sie ist nie geländegängig. Wann immer man sich auf einem gerade dahin laufenden Weg wähnt, ziehen plötzliche Gewitter auf, die den Blick verstellen
Lydia Mischkulnigs Figuren sind wenig angepasst. Sie sind Opfer - und doch auch wieder nicht. In den meisten Fällen zeigen sie sich als renitente Wesen, die sich den Erwartungen der Gesellschaft und dem, was Konventionen und scheinbar allgemeingültige Moralvorstellungen vorgeben, widersetzen. Nicht ohne sich dabei selbst Schmerz zuzufügen.
Ein Findling in der literarischen Welt
Die Autorin schaut genau hin. Ob es nun ein Stiegenhaus ist, das sie präzise und damit ungemein sinnlich beschreibt, ein Spaziergang oder eine Mordszene. Idylle und Grauen liegen eng beisammen. Mischkulnigs Verfahrensweise kennt man längst, nicht zuletzt auch aus ihren famosen Erzählungen mit dem Titel "Macht euch keine Sorgen".
Ihr neuer Roman präsentiert sich ähnlich radikal und unversöhnlich. Schade nur, dass das Buch weniger konzentriert wirkt als die Geschichten. Auch die mitunter etwas aufdringliche Selbstdiagnose der Heldin hätte der Band gar nicht nötig. Er steht ohnehin selbstbewusst wie ein Findling in der literarischen Welt. Wo der Roman endet, das ahnt man ohnehin: zwischen weißen Wänden und vergitterten Fenstern.
Und hier sitze ich und zeichne auf, was geschehen ist. In ein paar Jahren werde ich wieder draußen sein. Meine weißen Hände tanzen wie Fingertierchen über die Tastatur, gehorchen wie dressierte Lipizzaner. Ein Sprünglein im Gedankenritt und ich bin wieder ganz bei Marie und ihrer Arroganz, als sie damals, das Kinn mit der Handknospe stützend, sagte: "Fixiert sein ist irre." Paul gilt als unschuldig, solange ich lebe, und ich muss das zu vermuten lernen.
Da sind sie wieder, die wunderbar leichtfüßigen Sätze der Lydia Mischkulnig: Kommen ganz arglos daher und tänzeln dabei ständig dem Abgrund entlang. Man nehme sich als Leser in Acht.
Service
Lydia Mischkulnig, "Schwestern der Angst", Haymon Verlag
Lydia Mischkulnig
Haymon Verlag - Schwestern der Angst