Großbaustellen mit Öffentlichkeit

Von der Landstraße zum Praterstern

Wiens zentralste Bahnhofsbaustelle heißt Wien-Mitte. Dem internationalen Trend entsprechend entsteht hier ein Bahnhof mit lukrativen Zusatzfunktionen - "ein multifunktionaler Gebäudekomplex, der in seiner Attraktivität einzigartig sein wird“, wie die Bauherren versprechen.

Bahnhof Wien-Mitte, kurz vor der Mittagspause

Buntes Nebeneinander

Auch in Wien-Mitte wird das logistische Meisterwerk vollbracht, Verkehrsbetrieb und Baustelle zeitgleich abzuwickeln - wenn auch mit Verzögerungen im Zeitplan. Der kleine Straßenabschnitt zwischen Hilton Hotel und Village Cinemas auf der einen und der Baustelle auf der anderen Seite, ist derzeit noch interessanter, als die Baustelle selbst. Am einen Straßenende bekommt man grünes Infomaterial, am anderen orange Kugelschreiber. Dazwischen hasten Anzugmenschen mit Rollkoffern vorbei, Jugendliche treffen sich, und ein Betrunkener schläft stehend beim Pinkeln ein.

Provisorische Fahrkartenschalter reihen sich an provisorische Geschäftslokale. Einige der Händler, die zuvor im alten Wien-Mitte-Komplex untergebracht waren und auch im neuen Gebäude Plätze reserviert haben, bieten in der Zwischenzeit in und vor Containern ihre Waren an - Notunterkünfte zur Überbrückung der sich in die Länge ziehenden Baustellenzeit.

Staubiger Umzug

Vor zwei Jahren mussten die Händler aus den alten Geschäftslokalen ausziehen, und weitere zwei Jahre soll gebaut werden. Bunte Blumensträuße, Obst und Gemüse, daneben Fast Food und eine Trafik - was das Auge freut, ist der Geschäftsleute Leid. Denn die Umsätze seien hier draußen massiv zurückgegangen, kurz vor dem Bankrott stehe er, jammert ein Verkäufer.

Maria Frick, Verkäuferin im Blumengeschäft El Ramadi, klagt über den Baustaub, der ihre Blumen bedeckt, denn schmutzige Ware kauft freilich niemand. Zum Glück, so Frau Frick, sie die Staubentwicklung nun, da der Abriss weitgehend abgeschlossen sie und die Stahlskelette des neuen Bauwerks in die Höhe gezogen würden, geringer geworden. Laut sei es aber immer noch.

Maria Frick ist Blumenverkäuferin in Wien-Mitte: "Keiner findet sich zurecht - wir werden alle froh sein, wenn der neue Bahnhof fertig ist."

Temporärer Aufenthalt

Die Baustelle Wien-Mitte verschiebt sich je nach Bauphase. Momentan kragt sie schon recht weit in die Landstraßer Hauptstraße hinein - es wird enger für die Passanten, Radfahrer, Durcheilende und Herumlungernde. Mit der Baustellenverschiebung wandern auch die Eingänge zu den U-Bahnen und den S-Bahnen, die durchgehend betrieben werden.

Die häufigste Frage, die einem in Wien-Mitte gestellt wird, ist daher, wo man zum Bus oder zum Zug nach sowieso kommt. Die zweithäufigste ist, ob man Kleingeld oder eine Zigarette übrig hat, und die dritthäufigste ist die nach dem Standort der Bauleitung.

In den Norden ...

Wien-Mitte ist mit dem Praterstern nicht nur durch die Bahntrasse verbunden. Am Bahnhof Praterstern kam man sich früher, ohne überhaupt einen Zug bestiegen zu haben, wie im Ausland vor. Die Unterführung unter den Bahngleisen hatte vieles, was anderen öffentlichen Plätzen in Wien, welche gestalterisch vereinheitlicht und dadurch ob ihres gewachsenen Charmes, ihres spezifischen Charakters, ihres Aussehens und Klangbildes entleert wurden, fehlt.

Der öffentliche Stadtraum braucht ästhetische Brüche, um belebt und dadurch interessant zu sein. Auf dem Praterstern besorgten das früher - noch bevor der anstehende Umbau nach und nach Opfer forderte - lärmende Kinder, ein schrulliges Plattengeschäft, stänkernde Jugendliche, auf Simsen nistende Tauben, Würstelbuden mit biertrinkenden Stammgästen und vor allem Ausländer, die sich laut und in fremden Sprachen unterhielten. Es war ein Ort, der, ein wenig stinkend, ein wenig verrucht, jeden Besuch wert war.

... und in die Gegenwart

Der großstädtische Praterstern ist einem neuen Gebäude mit zeitgemäßem Nutzungskonzept - also vor allem Konzern-Gastronomie - gewichen. Das Gute daran ist, dass das Reisen - und seien es auch nur ganz kurze Strecken - nun tatsächlich viel mondäner ist, als früher. Die Bahnsteige sind elegant und luftig - und selbst wenn man nur bis zur Traisengasse fährt, hat das Warten auf den Zug etwas Feierliches. Der spiritus loci des Pratersterns ist nun woanders zu finden: in Wien-Mitte nämlich. Gemischt mit dem Landstraßer spritius loci, der ebenfalls seine Eigenheiten hatte.

Man erinnere sich zum Beispiel an die Interspar-Filiale, die anscheinend seit den frühen 1980er Jahren weder ihre Dekoration noch ihr Sortiment geändert haben muss. An einer - wahrscheinlich eingemieteten - Glasschleiferin vorbei konnte man mit einer Rolltreppe ins Obergeschoß fahren. Hier war es ein schlecht sortiertes, aber dennoch allumfassendes Warenangebot zu finden - es gab zwar alles, aber nicht gerade, wenn man es brauchte, dafür viel anderes, wovon man noch nicht gewusst hatte, dass man es brauchte.

Abrunden ließ sich ein Einkaufsbummel im Interspar im Restaurant bei einem wirklich nicht sehr appetitlichen Schnitzel und mit einsamen Senioren an den Nebentischen. Aber mit Blick auf die Straße unten. So ein sonderbares und berührendes Ambiente urbaner Verlorenheit schaffen selbst McDonald's und Mr. Lee nicht zu inszenieren.